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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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paar der größten Lügen, mit denen ich konfrontiert war, sind Fotos gewesen. Auf einigen war ich abgebildet.
    Knipser schaut geradeaus, einen leicht verschnupften Ausdruck im Gesicht. Willie, sagt er, ich weiß nur, dass ich durch diese Kamera zum Blutbad in Hue City kam. Tet-Offensive – für mich sind das nicht nur Worte in einem Buch. Durch sie kam ich nach Mexiko-Stadt, wo ich sah, wie Tommie Smith und John Carlos die schwarzbehandschuhte Faust hoben. Durch sie kam ich nach Memphis, wo ich das Chaos und die Vertuschungsmanöver nach dem Mord an Dr. King sah. All das hätte ich sonst nie miterlebt. Diese Kamera lässt mich sehen, Mann. 
    Sutton sieht Schreiber an. Und was ist mit dir?
    Mit mir?
    Wolltest du schon immer Reporter werden?
    Ja.
    Und warum?
    Ich bin ein Jeschiwa-Student aus der Bronx. In welchem anderen Beruf könnte ich den Tag mit Amerikas größtem Bankräuber verbringen?
    FBI -Agent.
    Ich mag keine Schusswaffen.
    Ich auch nicht.
    Ich gebe zu, Mr Sutton, an manchen Tagen mag ich den Job nicht. Kein Mensch liest mehr.
    Ich lese ununterbrochen.
    Sie sind die Ausnahme. Das Fernsehen löscht uns alle aus. Und ein Redaktionsraum ist nicht gerade der glücklichste Ort auf Erden. Eher eine Schlangengrube. Politik, Verrat, Eifersucht.
    Das ist das Schöne an Ganoven, sagt Sutton. Es gibt keinen Berufsneid. Wenn ein Ganove liest, dass ein anderer mit ein paar Millionen durchgebrannt ist, freut er sich für ihn. Ganoven halten zusammen. 
    Außer wenn sie sich gegenseitig umbringen.
    Stimmt.
    Erzähl ihm von deinen Ressortleitern, sagt Knipser zu Schreiber.
    Was ist mit ihnen?, sagt Sutton.
    Sie können richtige Nervensägen sein, sagt Schreiber in seinen Schoß.
    Sutton zündet sich eine Chesterfield an. Und was ist mit deinem Ressortleiter? In welcher Hinsicht ist er eine Nervensäge?
    Er sagt, mein Gesicht schreit geradezu danach, angelogen zu werden.
    Aua. Und was meinte er, als er dich losgeschickt hat, um den Tag mit Willie zu verbringen?
    Knipser lacht und sieht auf seiner Seite zum Fenster raus, Schreiber auf seiner.
    Nur zu, Kleiner. Sag’s mir ruhig.
    Mein Ressortleiter meinte, ich hätte heute drei Jobs. Ich soll Sie dazu bringen, sich über Arnold Schuster zu äußern. Keinen anderen Reporter oder Fotografen in Ihre Nähe lassen. Und Sie nicht verlieren.
    Sutton bläst eine Rauchwolke über Schreibers Kopf. Dann bist du am Arsch, Kleiner.
    Warum?
    Du hast mich schon verloren. Ich bin im Jahr 1917 .
     
    Willie steht im Tresorraum. Er ist größer als sein Zimmer in der Thirteenth Street – und er ist vom Boden bis zur Decke mit Geld gefüllt. Er betrachtet die Scheine in den fest sitzenden Banderolen, die Kassetten mit Goldmünzen, die Regale voller Silber. Er holt tief Luft – besser als ein Süßwarenladen. Er hat sich nie klargemacht, wie sehr er Geld liebt. Das konnte er sich nicht leisten.
    Er belädt einen Rollwagen mit Bargeld und Münzen, schiebt ihn langsam an den Käfigen entlang und füllt die Schubladen der Kassierer. Er fühlt sich allmächtig, ein König Salomon aus Brooklyn, der Gaben aus seiner Mine verteilt. Bevor er den Wagen zurückfährt, wiegt er einen Packen Fünfziger in der Hand. Mit diesem einen Packen könnte er sich ein schickes neues Auto kaufen und seinen Eltern ein Haus. Er könnte eine Kabine auf dem nächsten Passagierschiff buchen und nach Frankreich segeln. Er zieht einen Fünfziger heraus, hält ihn ans Licht. Das verwegene Porträt von Ulysses Grant, die grünen Schnörkel in den Ecken, die silbrig blauen Buchstaben:
Will Pay to the Bearer On Demand
, zahlt die Kasse gegen diese Banknote dem Einlieferer. Wer hätte gedacht, dass ein Fünfzig-Dollar-Schein so ein Kunstwerk ist? Sie sollten ein Exemplar ins Museum hängen. Er steckt den Fünfziger vorsichtig in den Packen zurück und legt ihn auf seinen Platz im Regal.
    Abends nach der Arbeit setzt Willie sich oft auf eine Bank im Park und liest Romane von Horatio Alger, verschlingt einen nach dem anderen. Sie sind immer gleich – der Held erhebt sich aus dem Nichts und wird reich, berühmt und respektiert –, und genau das gefällt Willie so gut. Die Vorhersehbarkeit des Plots und der unvermeidliche Aufstieg des Helden geben ihm ein wenig Trost, bekräftigen seinen Glauben.
    Manchmal fängt Algers Held als Laufbursche in einer Bank an.
     
    Ein Pädophiler, sagt Sutton.
    Knipser versucht, die Lokalredaktion über Funk zu erreichen. Ja, sagt er, ja, ja, richtig, wir verlassen die Remsen Street,

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