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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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auch in der Sands Street. Für ein einarmiges Mädchen in Brooklyn gibt es nicht viele Möglichkeiten, über die Runden zu kommen.
    Willie legt ein Fünfzig-Cent-Stück auf den Toilettentisch. Wingy steht auf, lässt das babyrosa Negligé fallen. Lächelnd geht sie zu Willie und hilft ihm beim Ausziehen. Sie weiß, es ist sein erstes Mal. Woher weißt du das, Wingy? Einfach so, Liebling. Willie rechnet nach – es muss ihr hundertunderstes Mal sein. In diesem Monat. Als er mit den Hosen um die Knöchel dasteht, küsst sie sein Kinn, seine Lippen, seine große Nase. Er fängt an zu zittern, als wäre ihm kalt, obwohl es im Zimmer stickig ist. Die Fenster sind fest geschlossen und beschlagen. Wingy führt ihn zum Bett. Sie legt sich auf ihn, küsst ihn fester, schiebt ihre Lippen zwischen seine.
    Er weicht zurück. Ihr fehlt die Hälfte der unteren Zähne.
    Die hat mir einer von der Handelsmarine ausgeschlagen, sagt sie. Jetzt aber keine Fragen mehr, Zuckerschnuckel, leg dich einfach zurück und lass Wingy mal machen.
    Und was macht Wingy?
    Ich hab gesagt, keine Fragen mehr.
    Sie berührt ihn erstaunlich sanft und geschickt, Willie ist schnell erregt. Sie zieht ihr dickes kastanienbraunes Haar über seine Brust, über sein Gesicht, wie ein Fächer aus Federn. Ihm gefällt, wie sich das anfühlt und wie es riecht. Ihre Haarseife, vielleicht Castile, kaschiert die anderen Duftnoten im Zimmer. Männerschweiß, altes Sperma – und Fels?
    Schon beim Eintreten hat er es verschwommen registriert. Jetzt wird es ihm bewusst. Wer Wingys Bettzeug wäscht, verwendet dasselbe Waschmittel wie Mutter. Es ist ein weitverbreitetes Waschmittel, er sollte also nicht überrascht sein, aber es verwirrt und bekümmert Willie in diesem krönenden Augenblick seiner Reifung.
    Und noch etwas verwirrt ihn. Willie dachte immer, Eddie könnte fluchen, aber gegen Wingy ist Eddie ein blutiger Amateur. Warum flucht sie bloß? Macht Willie etwas falsch? Aber wie denn, wenn er doch gar nichts macht? Er liegt hilflos auf dem Rücken. Wenn jemand fluchen sollte, dann er. Wingys üppiges Schamhaar ist struppig, fast schon drahtig, und es scheuert und schabt an der zarten Haut von Willies nagelneuem Penis. Rein und raus, hoch und runter, Wingy gibt ihr Bestes, um Willie zu befriedigen, und Willie weiß ihren Eifer zu schätzen, aber er kommt einfach nicht über die Kluft zwischen der Realität und seinen Erwartungen hinweg. Und darum dreht sich alles auf der Welt? Darum machen alle so ein Aufhebens –
darum
? Wenn bei dem Ganzen etwas schön war, dann die Erleichterung, als es vorbei ist.
    Wingy kuschelt sich an ihn und lobt sein Stehvermögen. Er dankt ihr für alles, sucht seine Kleider zusammen und gibt ihr zehn Cent Trinkgeld. Auf die kostenlose Blume verzichtet er.
     
    Knipser biegt in die Sands Street. Die Straße wird gerade repariert. Langsam schlängeln sie sich durch orangefarbene Hütchen und Sägeböcke. Irgendwo hier, sagt Sutton.
    Knipser hält an, stellt das Auto auf Parken. Achter Stock, sagt er mit näselnder Stimme – Damenhandtaschen, Herrensocken.
    Was ist an dieser Ecke passiert, Mr Sutton?
    Hier hat Willie seine Unschuld verloren. In einem Haus von üblem Ruf. So sagten wir damals zu Puffs.
    War sie hübsch?, fragt Knipser.
    Ja. War sie. Obwohl sie nur einen Arm hatte. Sie wurde Wingy genannt.
    Welcher Arm?
    Der linke.
    Warum wurde sie dann nicht Lefty genannt?
    Das wäre gemein gewesen.
    Schreiber und Knipser sehen sich an, dann zur Seite.
    Möchten Sie aussteigen, Mr Sutton?
    Nee.
    Willie, sagt Knipser – warum genau sind wir eigentlich hier?
    Ich wollte Wingy besuchen.
    Besuchen?
    Ich spüre, wie sie gerade jetzt über uns lächelt. Über eure Fragen. Sie mochte keine Fragen.
    Der Geist einer einarmigen Prostituierten? Toll. Das dürfte ein schönes Foto abgeben.
    Gut, Jungs, auf zum nächsten Halt. Wir haben gesehen, wo Willie seine Unschuld verloren hat. Fahren wir nach Red Hook und sehen uns an, wo Willie sein Herz verloren hat.
     
    Mit dem Waffenstillstand im November 1918 wird ganz New York zu Coney Island. Die Leute füllen die Straßen, tanzen auf Autos, küssen Fremde. Büros schließen, Lokale bleiben rund um die Uhr geöffnet. Willie, Eddie und Happy sind auch mit dabei, aber mit gemischten Gefühlen. Der Krieg war das Beste, was ihnen jemals passiert ist. Frieden bedeutet, dass man keine Maschinengewehre mehr braucht. Dass man sie nicht mehr braucht.
    Wieder entlassen, strampeln die Jungen sich ab. Sie

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