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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Kunst.
    Nach wenigen Wochen ist Willie ein unverzichtbares Mitglied von Docs Bande. Er taucht als Erster bei den wöchentlichen Planungstreffen auf und geht als Letzter. Er stellt die klügsten Fragen, kapiert sofort die Antworten und denkt manchmal an Dinge, die Doc entgehen. Eddie und die anderen Männer neigen dazu, sich zu langweilen. Aber nicht Willie. Er kann die ganze Nacht in einem Lokal sitzen und über Karten, Blaupausen und Broschüren von Safe-Herstellern brüten. Gehen wir das Ganze noch mal durch, sagt Doc immer, und Willie ist der Einzige, der nicht stöhnt.
     
    Sutton: Sieht noch genauso aus wie damals, als Doc hier gewohnt hat.
    Schreiber: Welches ist es?
    Sutton: Das mit der weißen Markise und dem dürren Portier. Doc hat dem Portier immer ein dickes Trinkgeld zu Weihnachten gegeben, um sicherzustellen, dass er ihn anruft und warnt, falls die Polizei mal auftauchen sollte. Wartet hier.
    Schreiber: Warten? Mr Sutton, wohin wollen –? Und schon geht er los.
     
    Willie kauft sich einen glänzenden neuen Ford, schwarz mit burgunderroten Sitzen, eine goldene Armbanduhr, zehn Paar handgefertigte Schuhe und ein Dutzend maßgeschneiderte Anzüge, alle aus mitternachtsblauem und grauem Flanell. Er kauft sich einen Frack und besucht alle paar Abende eine Broadway-Show. Für dreitausend Dollar im Monat mietet er eine Sechs-Zimmer-Wohnung an der Park Avenue und füllt einen der begehbaren Kleiderschränke mit seidengefütterten Überziehern und handbemalten Krawatten, pastellfarbenen Hemden und Kaschmirschals. Und jeweils zwei von allen möglichen Hutmodellen: Strohhüte, Filzhüte, Panamahüte, Florentinerhüte. Bisher konnte er seine Kleider immer mit einem Griff packen. Jetzt gleicht sein Schrank einem Kaufhaus.
    Am Morgen sitzt er gern in seinem neuen Ledersessel am Wohnzimmerfenster und blickt über die Dächer und Schornsteinaufsätze, die Wäscheleinen, Telegraphenleitungen, Bürotürme. Zum ersten Mal sieht er Manhattan von oben, ohne dass er von Sehnsucht erdrückt wird. Im Gegenteil, der Anblick macht ihn selbstgefällig. Die vielen Menschen dort unten, die sich abmühen, hetzen, stoßen, schieben und sich den Arsch aufreißen, um zu bekommen, was Willie schon hat. In Hülle und Fülle. Er zündet sich eine Zigarette an, bläst einen Rauchkringel ans Fenster. Idioten.
    Ein paar Monate lang ist er glücklich, oder zumindest so glücklich, wie er es ohne Bess sein kann. Er empfindet den Luxus nicht als selbstverständlich, den Komfort schöner Kleidung und guten Essens, Schlafen auf Seidenlaken, die teurer sind als anderer Leute Monatsmiete. Er hat sich nie stärker und lebendiger gefühlt, und er genießt seine Wirkung auf andere Menschen – die Blicke auf der Straße, die unübersehbaren Einladungen von Frauen in Form eines Lächelns über die Schulter, das unverhohlen ängstliche und neidvolle Glotzen der Männer. Aufmerksame Kellner, ehrfürchtige Verbeugungen von Portiers, Zigarettenmädchen, die ihm tiefe Einblicke in ihre Dekolletés gewähren, als wäre das sein Geburtsrecht. Und trotzdem, und trotzdem. Eines Morgens zeigt die luftige Aussicht auf Manhattan nicht mehr dieselbe Wirkung. Sein Verstand ist rastlos, sein Herz verstört. König von allem, was er überblickt – ja und? Er denkt an sein altes Viertel. Plötzlich ist er aus dem Sessel, auf den Beinen, ruft den Portier an, er möge ihm sein Auto bringen. Eine Stunde später gafft Wingy ihn an, lacht lauthals und sagt: Mann, bist du rausgeputzt.
    Hallo, Kleine.
    Schöne Aufmachung. Bist du plötzlich reich geworden?
    Ein reicher Onkel ist gestorben.
    Was du nicht sagst. Und du willst einen Teil von deinem Erbe in ein bisschen Liebe mit Wingy investieren?
    Nein. Wollte nur kurz hallo sagen. Ich hatte das Gefühl, ein Besuch würde dich vielleicht freuen.
    Er lässt seinen neuen Hut aufs Bett fallen.
    Ich wollte gerade frühstücken, sagt sie.
    Ich auch.
    Sie holt eine Flasche Schnaps unter der Matratze vor, schenkt zwei Gläser ein und reicht eines Willie. Sie sagt, sein Gefühl ist goldrichtig, heute Morgen ist sie deprimiert. Die Qualität ihrer Kunden nimmt steil ab. Die Wirtschaftskrise geht zu Ende, die Märkte boomen, und plötzlich kommen völlig andere Männer zu ihr.
    Wie anders?
    Wall Street, Willie. Eine üble Clique.
    Ich bin überrascht, dass die sich über die Brücke trauen.
    Sie kommen nach Brooklyn, weil sie was – anderes wollen. Auf dieser Flussseite gilt: Je schlichter das Mädchen, umso besser das

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