Knight 02 - Stuermisches Begehren
schwach, aber voller Hoffnung auf baldige Genesung. Die Düsterkeit in seiner Seele war jedoch hartnäckig. Genauso oft und rasch senkten sich die kalten, dunklen Schatten auf ihn he- rab, legten sich wie ein Grabtuch zwischen ihn und die Welt und hüllten Alice in graues Dämmerlicht, so dass er sie am liebsten in die Arme genommen hätte, bis sie vorübergezo- gen waren, aber er tat es nicht. Es war noch zu früh. Sie wür-
de vor ihm zurückweichen. Er wusste ganz genau, dass er sie nur aus dem Zimmer hatte locken können, weil er gedroht hatte, die Tür selbst aufzuschließen. Er konnte es sich nicht leisten, sie noch einmal zu verschrecken.
Die ganze Zeit wanderte die Sonne nach Westen. Der Tag neigte sich seinem Ende zu, genau wie das Jahr. Daran erin- nerte auch der Geruch der raschelnden Blätter, die er mit je- dem Schritt aufstörte, als er Alice auf dem steilen, gewunde- nen Pfad folgte. Er war fest entschlossen, ihr Vertrauen zu gewinnen, verbarg seine Ungeduld jedoch hinter einem freundlichen Lächeln, als sie über die Schulter zurückblick- te.
„Auch schon da, Faulpelz?“ neckte sie ihn. Ihre Wangen waren von dem Aufstieg in der Kälte ganz rosig.
„Faulpelz?“ wiederholte er.
„Nun, was haben Sie denn da hinten so lange gemacht? Die Steine unter Ihren Füßen gezählt?“ Sie wandte sich wieder um und raffte den Rock zum Aufstieg, wobei er einen Blick auf ihre hübschen Waden erhaschte.
„Ach, nur die Aussicht bewundert“, sagte er, während er den mädchenhaft wiegenden Schwung ihrer Hüften genoss. Doch als dieser Anblick gefährliche Gedanken in ihm weck- te, ging er eilig an ihr vorbei und übernahm wieder die Füh- rung. „Beeilung, meine Liebe. Wenn Sie trödeln, kriegen Sie keine Ration zugeteilt!“
„Welche Ration?“
„Sie bekommen nichts zu essen. Soldatenjargon. Sputen Sie sich, wir sind gleich da. Genau rechtzeitig für den Son- nenuntergang.“
„Sie waren in der Armee?“ rief sie aus.
„Fünf Jahre.“
„Sie scherzen!“
„Nein“, seufzte er. „Ich wollte, es wäre so.“
„Sie in der Armee!“ Sie lachte. „Die Vorstellung fällt mir schwer.“
„Mir auch.“
„Sie scheinen nicht der Typ zu sein, der Befehle befolgt. In welchem Regiment waren Sie denn?“
„Im 138. Infanterieregiment.“
„Oh“, sagte sie zweifelnd.
„Ich weiß – kein sehr fashionables Regiment.“ Er reichte
ihr die Hand und half ihr über eine Baumwurzel, die in den Weg ragte. „Eigentlich wollten wir zur berittenen Garde, aber Damien wollte lieber kämpfen, statt in einer schicken Uniform in London herumzulungern – was mir vollkommen genügt hätte.“
„Sie sind gemeinsam in die Armee eingetreten?“
Er nickte. „Zuerst haben wir unter Cathcart in Dänemark gekämpft, dann wurden wir auf die Halbinsel geschickt.“ Sie lachte ungläubig. „Welchen Rang hatten Sie inne?“ „Captain.“
„Captain Lord Lucien!“ rief sie und lachte noch lauter. „Haben Sie sich ein Offizierspatent gekauft, oder wurden Sie auf Grund Ihrer Verdienste befördert?“
Halb überrascht, halb empört begann er zu grinsen. „Was für eine Unverschämtheit! Ich wurde befördert, darf ich Ih- nen versichern. Zu Ihrer Information: Damien und ich haben die besten Seitenkompanien unseres Regiments befehligt. Ich war ...“
„Nein, sagen Sie nichts. Lassen Sie mich raten.“ Amüsiert betrachtete sie ihn. „Ein Grenadier sind Sie nicht. Grenadie- re sind große, treue Kerle und werfen sich als Erste in die Schlacht, zumindest heißt es das.“
Er zog eine Augenbraue hoch, nicht sicher, ob er soeben beleidigt worden war.
„Nein“, schloss sie, „Sie müssen Captain der leichten In- fanterie gewesen sein. Die geistesgegenwärtigen Scharf- schützen.“
„Wie haben Sie das bloß erraten?“
„Ich kenne mich eben aus“, erwiderte sie und wandte sich hoch zufrieden ab.
Lächelnd blickte Lucien ihr nach. Er war völlig hingeris- sen. „Wie das?“
„Natürlich durch meinen Bruder. Er war im 43. Regi- ment.“
„Die glorreichen Dreiundvierziger“, meinte Lucien beein- druckt. „Ich habe gehört, wie tapfer Lord Glenwood sich bei Vittoria geschlagen hat. Er war ein mutiger Mann und ein guter Offizier.“
„Und ein guter Bruder“, fügte sie leise hinzu. „Haben Sie auch bei Vittoria gekämpft, Lucien?“
„Nein, ich schied schon im Jahr zuvor aus, nach Badajoz.“
„Badajoz“, murmelte sie ernst. „Phillip sagte, dies wäre die fürchterlichste Schlacht im ganzen
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