Lustakkorde - Ostfrieslandkrimi (German Edition)
1
Behutsam fuhr sie mit ihren
Fingern über den nackten Körper. Es war wie ein Zwang. Schon seit Stunden rief
sie sich immer wieder zur Ordnung, befahl sich, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen,
ihn einfach zu ignorieren. Aber, so sehr sie es auch versuchte, es gelang ihr
nicht. Ganz im Gegenteil schien ihr Verlangen, diesen Körper zu berühren, mit
jedem Moment intensiver zu werden. Aber was war das für ein Verlangen? Diese
kleine Skulptur rief Gefühle in ihr wach, die sie bisher nicht gekannt hatte.
Schwer atmend zog sie ihre Hand zurück. Was nur passierte mit ihr, wenn sie
über das kühle, weiße Marmor strich? Was war es, das ihr Blut in Wallung
versetzte, wenn sie mit zittrigen Fingern die Kurven des schlanken,
geschmeidigen Körpers entlangfuhr, sich langsam von der sanften Einbuchtung des
Schulterblattes bis hinunter zu den wohlgeformten Rundungen des Gesäßes
vortastete, bis ihre Hände schließlich eine Zone der Weiblichkeit erreichten,
die, so hatte man ihr immer wieder eindringlich gesagt, in höchstem Maße unkeusch
und damit für Berührungen jeglicher Art eine unbedingte Tabuzone war? Aber, so
dachte sie bei sich, konnte so etwas überirdisch Schönes, wie es hier auf ihrem
Schreibtisch vor ihr stand, wirklich etwas Verbotenes sein? Die kleine,
glänzende Skulptur schien ihr Ausdruck einer schöpferischen Kraft zu sein, die
erhaben war über alles Irdische. Und dennoch war sie von Menschenhand
erschaffen worden.
Mit vor Aufregung zitternden
Händen hatte sie am Nachmittag das Internet durchforstet auf der Suche nach dem
Ursprung dieses göttlichen Geschöpfes. Und schließlich hatte es einen Namen
bekommen: Danaide. Erschaffen von Auguste Rodin, einem französischen Künstler
des 19. Jahrhunderts. Und je mehr sie sich in die Welt und das Leben des
Auguste Rodin eingelesen hatte, desto mehr war ihr bewusst geworden, dass es
sich bei ihm wahrlich um keinen Heiligen, sondern vielmehr um einen – wie ihr
Vater sagen würde – verruchten Sünder gehandelt hatte, der den menschlichen
Körper in seiner ganzen sündigen Nacktheit zur Schau stellte und damit – nichts
anderes war vorstellbar – die jungen, unschuldigen Mädchen, die ihm damals
Modell standen, der ewigen Verdammnis preisgegeben hatte.
Ihr war nur allzu deutlich
bewusst, dass es sich für sie – mit diesem Wissen ausgestattet – geziemt hätte,
die Skulptur sofort im nächsten Container zu entsorgen, wollte sie nicht Gefahr
laufen, ein weiteres Opfer dieses in höchstem Maße unkeuschen Bildhauers zu
werden. Aber irgendetwas in ihr sperrte sich. Still flehte sie zu Gott, er möge
ihr die Kraft geben, von dieser kleinen Skulptur zu lassen. Aber so inbrünstig
ihr Flehen auch war, führte doch irgendeine dunkle Macht ihre in Demut
gefalteten Hände in suchender Bewegung immer wieder zur schönen Danaide zurück
und zwang sie, über die sich ihr entgegenstreckende kühle Weiblichkeit zu
streichen.
Gerade
wollte sie die Skulptur ein weiteres Mal liebkosen, als sie erschrocken
innehielt. „Magdalena“, hörte sie ihren Vater unten am Treppenabsatz rufen,
„kommst du bitte nach unten, deine Mutter hat das Abendessen gerichtet!“ Mit
einem tiefen Seufzer ließ das junge Mädchen die Danaide zurück in ihre Tasche
gleiten, der sie sie am frühen Nachmittag verstohlen entnommen hatte. „Bis
später“, flüsterte sie ihr zu und erschauderte bei dem Gedanken, was passieren
würde, wenn ihr Vater die Skulptur bei ihr entdeckte.
„Wie war deine Musikstunde, hast
du Fortschritte gemacht?“, fragte ihr Vater, während er sich einen Nachschlag
grüner Bohnen nahm. Magdalena nickte stumm. Es war ihr unmöglich, auch nur ein
Wort hervorzubringen. Mechanisch kaute sie auf einem Stück Rindfleisch herum,
das ihr heute besonders zäh vorkam.
„Du hast so gerötete Wangen,
Kind“, sagte ihre Mutter und schaute sie besorgt an, „du bist doch nicht etwa
krank?“
Magdalena schüttelte den Kopf. „A-aber
nein“, stammelte sie und fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss, „ich ...
die Hausaufgaben waren ein wenig anstrengend. Sonst ist nichts. Gar nichts.“
Ihr Vater nickte anerkennend. „Du
weißt ja, wie stolz ich darauf bin, eine so rechtschaffene Tochter zu haben,
Magdalena“, sagte er und tätschelte ihr den Arm. „Du wirst es einmal weit
bringen, da bin ich mir ganz sicher. Erst neulich habe ich zu Pastor Eckstein
gesagt, wie gut dir das Theologiestudium zu Gesicht stehen wird, und er hat mir
aus vollem Herzen zugestimmt.
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