Knight 02 - Stuermisches Begehren
noch einmal durch den Kopf gehen, was Mr. Whitby über Luciens einsame Kindheit gesagt hat- te. Ihre Hände zitterten, so überwältigt war sie von Mr. Whit- bys Enthüllungen. Ihr war nun klar, wie tief die Worte Ich bin allein bei Lucien wirklich gingen. Sie blickte von ihrer Teetasse auf und betrachtete sein fein geschnittenes Gesicht. Er lächelte gerade, während er mit dem alten Herrn über irgendeine Theorie von Hippokrates diskutierte. Es schien unmöglich, aber wie viel deutlicher musste er denn noch werden? Dieser schöne, charmante Mann suchte verzweifelt jemanden, der ihn liebte.
Plötzlich stieg ihr vor lauter Reue ein Kloß in die Kehle, weil sie ihn gestern so verletzt hatte. Jetzt wusste sie, wie schwer es ihm fiel, auf andere zuzugehen. Was hatte sie nur getan? Sie hatte ihn absichtlich verletzt – und nur aus Feig- heit. Am liebsten wäre sie zu ihm hinübergelaufen und hätte ihn, so fest sie konnte, in die Arme genommen. Plötzlich schaute er auf und merkte, dass sie ihn beobachtet hatte. In diesem Augenblick verriet ihr Blick all ihre Gefühle.
„Wir sollten lieber aufbrechen, wenn wir zurück sein wol- len, ehe das Unwetter losbricht.“ Er schaute bedeutungsvoll aus dem Fenster. Errötend folgte Alice seinem Blick und sah, dass es draußen ziemlich dunkel geworden war.
Sie nickte stumm. Während sie sich von Mr. Whitby verab- schiedeten, bemühte sie sich nach Kräften, ihren inneren Aufruhr zu verbergen. Einer spontanen Regung folgend, drückte sie dem alten Herrn einen Kuss auf die Wange.
Draußen zog Lucien seinen Mantel enger um sich und be- trachtete besorgt den Himmel. „Es ist kalt geworden. Gut möglich, dass ein Sturm aufzieht. Vielleicht sollten wir ihn lieber hier abwarten.“
„Unser Besuch hat Mr. Whitby erschöpft, Lucien. Be- stimmt regnet es nur ein bisschen.“
Er musterte sie nachdenklich und nickte dann. Sie eilten den Pfad zu Mr. Whitbys Gartentürchen hinunter, wo ihnen Mrs. Malone begegnete, die Haushälterin, die soeben aus der Kirche kam. Sie grüßten sie und gingen dann Seite an Seite den Feldweg hinunter.
In der Ferne läuteten die Kirchenglocken. Der Wind blies stürmisch, als wollte er das alte Leben, so wie Alice es ge- kannt hatte, hinwegfegen. Sie hielt das Gesicht in den reini- genden Sturmwind, sah, wie eine Krähe kreischend durch die Lüfte geworfen wurde, und dann fielen die ersten Trop- fen. Überrascht schauten sie einander an.
„Kommen Sie.“ Lucien ergriff ihre Hand, während der Wind durch sein schwarzes Haar fuhr. Es begann ein wenig stärker zu regnen, und Hand in Hand rannten sie den Weg hi- nunter in den düsteren Wald.
8. KAPITEL
„Nun los, los“, sagte er und zog sie hinter sich her. Sie eilten durch den Wald, sprangen über einen quer liegenden Baum- stamm, rannten an den aufragenden Kalksteinformationen vorbei. „Hinauf“, drängte er und schob sie den steilen Pfad hoch.
Zuerst hatte das Blätterdach sie noch vor dem leichten Regen geschützt. Die Blätter fielen herunter, während der Wind von allen Seiten herabstieß. Im Wald wurde es dunkel, und bald begann sich alles im Wind zu bewegen. Die Bäume bogen sich im Sturm, das Laub wirbelte herum, Äs- te knackten. Alice sah Lucien Trost heischend an. Aufrecht und selbstsicher schritt er durch den Wald, während sich sein schwarzer Mantel hinter ihm im Wind blähte. Er wirk- te fast übernatürlich ruhig, so als wäre er Herr über den Sturm.
Ein Bild kam ihr in den Sinn: Ebenso unerschütterlich mochte er auch unter schwarzen Rauchwolken in die Schlacht marschiert sein. Es beruhigte sie, wenn sie daran dachte, dass die leichte Infanterie das Terrain zu nutzen verstand. Eine ihrer Hauptaufgaben bestand darin, das Ge- lände für die späteren Marschsäulen des Regiments auszu- kundschaften, sichere Routen zu finden und mögliche Ge- fahren aufzuspüren. Ein bloßes Unwetter würde einem Cap- tain Lucien Knight keine Angst einjagen, doch konnte sie dasselbe nicht von sich behaupten, gestand Alice sich ein, als sie in der Ferne Donner grollen hörte. Sie wurde immer nervöser und hielt sich nah bei ihm, so nah, dass sie seine Körperwärme spürte. Der Himmel, wie sie durch die schwankenden Baumwipfel erkannte, war bleigrau gewor- den.
Sie hatten die Hälfte des Rückwegs bereits hinter sich, als
das Nieseln ohne Vorwarnung zu einem schweren Wolken- bruch wurde. Binnen kurzem waren sie klatschnass. Der Regen rauschte lautstark auf den Laubteppich im Wald nie- der und
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