Knight 02 - Stuermisches Begehren
Lied im Repertoire, mit dem sie auf Gesell- schaften glänzen kann. Irgendwann einmal müssen Sie die- se Qualen doch auch durchlitten haben, Miss Montague.“ Alice rang sich ein Lächeln ab. „Ich versichere Ihnen, ehe es zu solchen Darbietungen kommt, laufe ich immer da- von.“
„Schlimmer als ich können Sie nicht sein. Ich bin voll- kommen unmusikalisch.“
„Das glaube ich nicht!“
„Also gut – dann lüge ich eben“, räumte er mit einem spitzbübischen Lächeln ein. „Singen Sie wirklich nicht gern?“
„Gegen Musik oder Gesang habe ich nichts einzuwenden. Mir behagt nur die öffentliche Demütigung nicht.“
Er lachte, und sie lächelte über das Geräusch, das von den Höhlenwänden zurückgeworfen wurde und durch den dunklen Felsengang hallte.
„Eine private übrigens auch nicht“, fügte sie bekümmert hinzu und schaute zu ihm auf. Sein Gesicht schimmerte im Licht der Laterne. „Zum Beispiel, wie ein Bauernkind den Hügel hinunterzurollen.“
Er lachte und legte ihr den Arm um die Schultern. „Aber, aber, meine Arme“, flüsterte er und streichelte sie sanft. „Ich bin nur dankbar, dass Sie sich nichts Schlimmeres ge- tan haben. Singen Sie mir ein Lied vor.“
„Ganz bestimmt nicht. Eine Demütigung ist schon schlimm genug. Lucien, was meinen Sie, wie viele Fleder- mäuse wohnen hier in dieser Höhle? Hunderte?“ Sie
schluckte, als schon wieder etwas Schwarzes über sie hin- wegflatterte. „Tausende?“
Statt zu antworten, begann er leise zu singen. Seine Stim- me war so warm und köstlich wie eine Tasse heißer Kakao. Es war das süßeste Lied, das sie je gehört hatte – die Melo- die war voll Sehnsucht, und der Text handelte von einem Ritter, der von den Kreuzzügen zur Dame seines Herzens zu- rückkehrt. Alice lauschte wie verzaubert und vergaß bald die Dunkelheit und alle Fledermäuse, die Kälte und sogar ihre schmerzende Schulter. Dann sang er die letzte Strophe und verstummte. Das Lied verklang mit einem leisen Flüs- tern im Felsengang.
Alice betrachtete Lucien. Nach einem Augenblick schau- te er sie unsicher wie ein Knabe an, doch als er ihren anbe- tenden Blick bemerkte, begannen seine Augen zu funkeln. Sie hielt seine Hand fest. „Singen Sie mir noch ein Lied vor.“
„Würde ich ja, meine Liebe, aber wir sind da.“
Sie blickte in die Dunkelheit vor ihnen. Als er die Laterne hob, sah sie ein großes Tor, das passgenau in den Felsen ein- gearbeitet war. Lucien machte sich sanft von ihr los und ging darauf zu. Er griff in eine Nische im Fels und tastete darin herum, bis er den Schlüssel gefunden hatte, schloss das Tor auf und ließ sie passieren.
Prickelnd lief es ihr über den Rücken, als sie erkannte, dass dieser Tunnel ein potenzieller Fluchtweg für sie war, falls sie planen sollte, von Revell Court zu entfliehen. Wenn es morgen aufklarte, könnte sie sich vielleicht davonstehlen, während Lucien sich mit seinen Männern im Fechten übte. Bei dem Gedanken begann ihr Herz wie wild zu klopfen – ir- gendwie kam es ihr wie Verrat vor. Sie wusste, dass sie vom Haus aus in die Grotte fände. Von dort aus könnte sie das Tor auf schließen und nach draußen entkommen. Sie könnte in dem kleinen Weiler, wo Mr. Whitby wohnte, Hilfe suchen – bestimmt würde jemand sie zur nächsten Poststation brin- gen, und von dort aus käme sie heim nach Glenwood Park und zu Harry.
Ernüchtert von dieser Idee, schaute sie sich verstohlen um, während sie den restlichen Weg zur Grotte zurückleg- ten. Dann warf sie ihm einen ziemlich schuldbewussten Blick zu. Er musterte sie durchdringend. Offensichtlich hat-
te er gesehen, wie sie zum Tor zurückgeschaut hatte. Er starrte ihr in die Augen, schien ihre Fluchtgedanken dort le- sen zu können, sagte aber kein Wort.
Als sie schließlich in die Grotte traten, stieg die Erinne- rung an den erotischen Traum in Alice auf, der sich so schamlos um Lucien gerankt hatte. Sie wurde feuerrot und wich seinem Blick aus.
Als er den Tunnel betreten hatte, war ihm doch sicher be- wusst gewesen, dass sie ihn als mögliche Fluchtroute in Be- tracht ziehen würde. Und dann erkannte sie, dass er dieses Risiko eingegangen war, um sie vor dem Unwetter in Sicher- heit zu bringen. Während der Zauber seines Liedes noch in ihr nachhallte, sah sie sich in der Grotte um. Durch Spalten in der Decke fiel perlgraues Tageslicht in die hohe Felsen- halle – und Regen in fadendünnen Rinnsalen. Dampfschwa- den stiegen von heißen Quellen auf. Der
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