Knight 02 - Stuermisches Begehren
beruhigen. Er blieb, so lange er es wagte, bevor er seinen armen, schmerzenden Hintern wieder in den Sattel hievte. Er lenkte sein Pferd zurück auf die Hauptstraße, schaute sich nervös um und dankte Gott, dass die schöne Russin, die
ihm auf ihrer langbeinigen grauen Stute folgte, nirgends zu sehen war.
Angewidert setzte er sein Pferd in Trab; er musste daran denken, wie ihm beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen wären, als er die üppige Sophia zum ersten Mal erblickt hat- te. Der kalte, gefühllose Ausdruck in ihren Augen war ihm erst mehrere Tage später aufgefallen. Er hatte mit dem Ge- danken gespielt, sie herankommen zu lassen und sie dann zu überreden, sich mit ihm gegen Bardou zu verbünden, doch sie fürchtete ihren französischen Liebhaber viel zu sehr, um den Versuch zu wagen. Also blieb Rollo nichts anderes übrig, als um sein Leben zu reiten. Trotzdem, er lief lieber vor So- phia als vor Bardou davon.
Inzwischen hatte Sophia sicher erraten, wohin er unter- wegs war – nach Revell Court. Ihm war rasch klar geworden, dass er seine Auftraggeber niemals rechtzeitig von Bardous schrecklichem Plan würde verständigen können, aber er wusste, dass er irgendetwas unternehmen musste. Er wollte verhindern, dass Frauen und Kinder während der alljährli- chen Festivitäten in die Luft gesprengt wurden. In seiner Verzweiflung hatte er beschlossen, sich an Lucien Knight zu wenden. Rollo hatte vor ein paar Tagen einen Brief von Lu- cien bekommen, in dem ihn dieser zu einem Treffen gebeten hatte – sicher wusste Lucien schon, dass etwas in der Luft lag. Rollo hatte eigentlich beschlossen, den Brief zu ignorie- ren, sich aber anders besonnen, als er erfuhr, dass Bardou ei- nen Akt willkürlicher Zerstörung plante.
Lucien war nun seine einzige Hoffnung. Er war der Einzi- ge, der auf einen Tunichtgut wie Rollo Greene hören würde. Und er war der Einzige, der Bardou daran hindern konnte, London am Guy-Fawkes-Abend in Schutt und Asche zu le- gen. Rollo betete nur darum, dass er Lucien rechtzeitig er- reichte, bevor ihn der russische Todesengel einholte.
Auf die göttliche Vorsehung vertrauend, spornte er sein Pferd an.
In jener Nacht saß Lucien in seinem Schlafzimmer und starrte hinaus auf den dunklen Horizont und das sternen- übersäte Firmament und grübelte verletzt und zornig auf sich selbst darüber nach, wie er sich an diesem Nachmittag vor Alice erniedrigt hatte. Er hatte einfach nicht wahrhaben
wollen, wie sehr sie in den letzten Tagen die Kontrolle über ihre Beziehung übernommen hatte. Die ganze Liaison war eine Laune von ihm gewesen, zu seinem Spaß gedacht, und plötzlich war aus dem Verführer der Verführte geworden. Ob sie es wohl genießt, wenn ich vor ihr auf den Knien rutsche, fragte er sich und nahm einen Schluck Brandy, der reichlich bitter schmeckte. Gefühlsmäßig war er nun in ihren Händen, und das machte ihm höllisch Angst.
Wenn sie nur gesagt hätte, dass sie mich liebt, dachte er, noch immer tief verletzt ob dieser Verweigerung. Ah, aber seine kleine Künstlerin war eben so ehrlich, dass sie ihn lie- ber mit der Wahrheit verletzte, als ihn mit einer Lüge zu be- schwichtigen. Das respektierte er ja auch an ihr. Und doch konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, dass sie sich etwas aus ihm machte. Vielleicht war es reines Wunschden- ken. Er saß da und rang mit sich, bis er abrupt beschloss, es jetzt herauszufinden.
Er trank den letzten Schluck Brandy, um noch etwas Mut zu machen, stand auf und machte sich auf den Weg durch die zahllosen Flure. In der lastenden Stille rauschte ihm das Blut in den Ohren, als er in den Gang trat, der zu ihrem Zimmer führte.
Er hielt die Ungewissheit, diese innere Verwirrung nicht mehr aus. Er fand es furchtbar, sich so verletzlich zu fühlen. Es lief einfach allem zuwider, was er im Krieg gelernt hatte: in Deckung bleiben, die Gefühle unterdrücken. Wenn sie sei- ne Liebe nicht erwidern konnte, hatte es keinen Sinn, das al- les durchzumachen. Ich muss es einfach wissen, dachte er, als er vor ihrer Tür stand. Wenn sie nicht für immer bei ihm blei- ben wollte, würde er sein eigenes Leiden nicht weiter verlän- gern und sie stattdessen am nächsten Morgen heim nach Glenwood Park zu ihrem kostbaren Harry schicken.
Während er vor der Tür zögerte, ahnte er, dass dieser Mo- ment das Schicksal von ihnen beiden entscheiden würde. Er hatte ihr den Schlüssel freiwillig überreichen lassen, sie hat- te es in der Hand, ihn einzulassen oder
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