Knochen zu Asche
weit in den Juli hinein hielt Grandma Lee ihre Telefonkampagne mit dem Motto »Rückkehr nach Dixie« aufrecht. Immer wieder tauchten auch Brennan-Verwandte bei uns auf, jetzt allerdings allein oder nur zu zweit,
Männer mit schweißnassen Achseln, Frauen in feucht-schlaffen Baumwollkleidern. Die Gespräche waren eher zurückhaltend, Mama war nervös und immer den Tränen nahe. Ein Onkel oder eine Tante tätschelte ihr die Hand. Mach, was das Beste ist für dich und die Kinder, Daisy.
Auf meine kindliche Art spürte ich eine neue Rastlosigkeit in diesen Familienbesuchen. Eine Ungeduld, dass das Trauern endlich aufhören und das Leben neu beginnen möge. Die Besuche wurden zu Patrouillengängen, unangenehm, aber unabdingbar, weil Michael Terrence einer der Ihren gewesen war und die Sache mit der Witwe und den Kindern in anständiger Manier gelöst werden musste.
Der Tod brachte auch Veränderungen in meinem eigenen sozialen Umfeld.
Kinder, die ich schon mein Leben lang kannte, mieden mich jetzt. Wenn wir uns zufällig trafen, starrten sie auf ihre Füße. Verlegen? Verwirrt? Angst vor Ansteckung? Die meisten fanden es einfacher, wegzubleiben.
Mama hatte uns nicht für die Tagescamps eingeschrieben, deshalb verbrachten Harry und ich die langen, schwülen Tage allein. Ich las ihr Geschichten vor. Wir spielten Brettspiele, inszenierten Puppentheater und gingen zu Woolworths an der 95th Street, um Comics oder Limonade zu kaufen.
Im Verlauf dieser Wochen wuchs auf Mamas Nachtkästchen eine kleine Apotheke. Wenn sie unten war, untersuchten wir die kleinen Fläschchen mit ihren steifen, weißen Kappen und den ordentlich beschrifteten Etiketten.Wir schüttelten sie. Spähten durch das gelbe oder braune Plastik. Die winzigen Kapseln verursachten bei mir ein Flattern in der Brust.
Mitte Juli traf Mama ihre Entscheidung. Vielleicht traf aber auch Grandma Lee sie für sie. Ich hörte zu, wie sie es Daddys Brüdern und Schwestern erzählte. Sie tätschelten ihr die Hand. Vielleicht ist es das Beste, sagten sie und klangen dabei – wie? Erleichtert? Was weiß eine Achtjährige von Nuancen?
Grandma kam an dem Tag an, als in unserem Garten ein Schild aufgestellt wurde. Im Kaleidoskop meiner Erinnerungen sehe ich sie aus einem Taxi aussteigen, eine alte Frau, dünn wie eine Vogelscheuche, die Hände knotig und trocken wie Eidechsenhaut. In diesem Sommer wurde sie sechsundfünfzig.
Binnen einer Woche saßen wir alle in dem Chrysler Newport, den Daddy vor Kevins Diagnose gekauft hatte. Grandma fuhr. Mama saß auf dem Beifahrersitz. Harry und ich saßen hinten, mit einer Barriere aus Malkreiden und Spielen zwischen uns, die unsere Territorien abgrenzte.
Zwei Tage später waren wir in Grandmas Haus in Charlotte. Harry und ich bekamen das Schlafzimmer im Obergeschoss mit der grün gestreiften Tapete. Der Wandschrank roch nach Mottenkugeln und Lavendel. Harry und ich sahen zu, wie Mama unsere Kleider auf Bügel hängte. Winterkleider für Partys und die Kirche.
Wie lange bleiben wir, Mama?
Mal sehen. Die Bügel klapperten leise.
Gehen wir hier zur Schule?
Mal sehen.
Beim Frühstück am nächsten Morgen fragte uns Grandma, ob wir den Rest des Sommers gern am Strand verbringen würden. Harry und ich schauten sie nur über unsere Rice Crispies hinweg an, schockiert von den donnernden Veränderungen, die über unser Leben hereinbrachen.
Natürlich wollt ihr das, sagte sie.
Woher weißt du, was ich will oder nicht?, dachte ich. Du bist nicht ich. Sie hatte natürlich recht. Das hatte Grandma meistens. Aber darum ging es nicht. Wieder war eine Entscheidung getroffen worden, und ich konnte nichts daran ändern.
Zwei Tage nach unserer Ankunft in Charlotte saß unsere kleine Truppe wieder im Chrysler, Grandma hinterm Lenkrad. Mama schlief und wachte nur auf, als das Wimmern der Reifen verkündete, dass wir über den Damm fuhren.
Mama hob den Kopf von der Rückenlehne. Sie drehte sich nicht zu uns um. Sie lächelte nicht, und sie trällerte auch nicht: »Pawleys Island, hier sind wir!«, wie sie es in glücklicheren Zeiten getan hatte. Sie ließ sich einfach nur wieder in den Sitz sinken.
Grandma tätschelte Mama die Hand, eine exakte Kopie der Geste, die auch die Brennans benutzt hatten. »Jetzt wird alles wieder gut«, gurrte sie in einem Singsang, der genauso klang wie der ihrer Tochter. »Vertrau mir, Daisy, Darling. Jetzt wird alles wieder gut.«
Bei mir wurde alles gut, als ich Évangéline Landry kennenlernte.
Und so
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