Knochen zu Asche
stolperten wir durch Longfellows großes Epos, der Inspiration für ihren Namen. Ihr Exemplar war auf Französisch, ihre Muttersprache. Sie übersetzte, so gut sie konnte.
Obwohl ich die Verse kaum begriff, verwandelte sie die Geschichte in ein Zaubermärchen. Unser kindlicher Verstand stellte sich das akadische Milchmädchen weit weg von ihrem Geburtsort in Nova Scotia vor. Wir improvisierten Kostüme und inszenierten das Drama dieser Diaspora und der glücklosen Liebenden.
Évangéline hatte vor, eines Tages Dichterin zu werden. Ihre Lieblingsgedichte hatte sie auswendig gelernt, die meisten auf Französisch, einige auf Englisch. Edward Blake, Elizabeth Barrett Browning, der Barde aus New Brunswick, Bliss Carman. Ich hörte zu. Und gemeinsam schrieben wir schlechte Gedichte.
Mir waren Geschichten mit einer Handlung lieber. Obwohl ihr das Englische schwerfiel, versuchte Évangéline sich an meinen Lieblingsautoren: Anne Sewell, Carolyn Keene, C. S. Lewis. Und endlos unterhielten wir uns über Anne Shirley und stellten uns ihr Leben auf der Green-Gables-Farm vor.
In dieser Zeit hoffte ich noch, Tierärztin zu werden. Auf meine Veranlassung hin führten wir Notizbücher über die Reiher in den Marschen und die Pelikane, die im Wind segelten. Wir errichteten Schutzwälle um Schildkrötennester. Wir fingen Frösche und Schlangen mit langstieligen Netzen.
An manchen Tagen veranstalteten wir raffinierte Teepartys für Harry und Obéline. Drehten ihnen Locken in die Haare. Zogen sie an wie Puppen.
Tante Euphémie kochte uns poutine râpée, fricot au poulet, tourtière. Ich sehe sie noch heute in ihrer Schürze mit den Rüschenträgern, wie sie uns in gebrochenem Englisch Geschichten über die Akadier erzählt. Geschichten, die sie von ihrem Vater und der von dem seinen gehört hatte. Das Jahr 1775. Zwölftausend Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden.
Wohin sind sie gegangen?, fragte dann Harry manchmal. Europa, Karibik, Amerika. Die in Louisiana wurden zu den Cajuns.
Wie konnte so was passieren?, fragte ich. Die Briten wollten unsere Farmen und Deiche. Sie hatten Gewehre.
Aber die Akadier sind zurückgekehrt? Einige.
In diesem ersten Sommer impfte Évangéline mir eine lebenslange Gier nach Nachrichten ein. Vielleicht, weil sie aus einer so isolierten Ecke des Planeten kam. Vielleicht, weil sie ihr Englisch üben wollte. Vielleicht, weil sie einfach nur so war, wie sie war. Évangélines Durst nach jeder Art Wissen war unstillbar.
Radio, Fernsehen, Zeitungen. Wir verschlangen und verstanden alles auf unsere kindliche Art. Abends saßen wir auf ihrer Veranda oder meiner, und während Junikäfer gegen die Fliegengitter knallten und aus dem Transistorradio die Monkees, die Beatles, die Isley Brothers plärrten, sprachen wir über einen Mann mit einem Gewehr in einem Hochhaus in Texas. Über den Tod von Astronauten. Über den schwarzen Bürgerrechtler Stokely Carmichael und eine merkwürdige Gruppe namens SNCC.
Mit meinen acht Jahren hielt ich Évangéline Landry für das klügste und exotischste Wesen, das ich je kennenlernen würde. Sie war auf dunkel zigeunerhafte Weise wunderschön, sprach eine fremde Sprache und kannte Lieder und Gedichte, die ich noch nie gehört hatte. Aber obwohl wir uns gegenseitig Geheimnisse anvertrauten, spürte ich damals schon eine gewisse Reserviertheit in meiner Freundin, etwas Rätselhaftes. Und
noch etwas. Eine verborgene Traurigkeit, von der sie nichts erzählte und die ich nicht benennen konnte.
Die heißen, schwülen Tage verstrichen, während wir unsere kleine Lowcountry-Insel erkundeten. Ich zeigte ihr Plätze, die ich von früheren Besuchen her kannte. Gemeinsam entdeckten wir neue.
Langsam verblasste mein Schmerz, wie er es unweigerlich tut. Meine Gedanken waren mit anderen Dingen beschäftigt. Angenehmen Dingen.
Dann war es August und Zeit für die Abreise.
Mama kehrte nie nach Chicago zurück. In meinem Leben entwickelte sich eine neue Geborgenheit in Charlotte. Ich lernte, Grandmas altes Haus in Dilworth zu lieben, den Duft von Geißblatt, das den hinteren Zaun überwucherte, den dunklen Tunnel der Weideneichen, die unsere Straße überwölbten.
Natürlich fand ich Freundinnen, aber keine war so exotisch wie meine sommerliche Seelenschwester. Keine, die Gedichte schrieb, Französisch sprach und Green Gables und die Königin von England gesehen hatte.
Wenn Évangéline und ich getrennt waren, schrieben wir uns Briefe mit Nachrichten über unser Leben im
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