Knochen zu Asche
stillschweigender Übereinkunft, das Thema Väter nie angeschnitten.
Von einer Telefonzelle aus und mit Münzen aus unseren Sparbüchsen riefen Harry und ich jede und jeden L. Landry in Tracadie an. Dann auch in den Orten der näheren Umgebung. Keiner kannte Évangéline oder ihre Familie. Zumindest behaupteten das alle.
Meine Schwester verlor das Interesse am Detektivspielen lange bevor ich es tat. Évangéline war meine Freundin gewesen und fünf Jahre älter als sie. Und Obéline war noch so jung gewesen, nur halb so alt wie Harry.
Letztendlich gab dann auch ich die Suche auf. Aber die Fragen verschwanden nie aus meinem Kopf. Wohin? Warum? Wie konnte ein vierzehnjähriges Mädchen eine Bedrohung sein? Schließlich war ich so weit, dass ich an meiner Erinnerung an Tante Euphémies Worte zweifelte. Hatte sie wirklich »gefährlich« gesagt?
Die Leere, die Évangéline hinterlassen hatte, war ein dunkles Loch in meinem Leben, bis der Trubel der Highschool Nachdenken und Trauern verdrängte.
Kevin. Daddy. Évangéline. Der Schmerz dieses dreifachen Schlags ist verblasst, wurde gedämpft von der Zeit, die verging, und verlor sich im Stress des Alltags.
Aber hin und wieder lauert ein Auslöser. Und dann überfällt mich die Erinnerung.
3
Ich war schon eine volle Stunde in Montreal, als LaManche anrief. Bis dahin war mein Juni-Abstecher in die frisch aufgetaute Tundra am St. Lawrence problemlos verlaufen.
Der Flug von Charlotte wie auch der Anschluss in Philadelphia waren beide planmäßig gestartet. Birdie hatte mir nur minimalen Kummer bereitet, lediglich bei Starts und Landungen hatte er protestierend miaut. Mein Gepäck war mit mir gelandet. Zu Hause angekommen, hatte ich auch meine Wohnung in einigermaßen gutem Zustand vorgefunden. Mein Mazda war beim ersten Versuch angesprungen. Das Leben war schön.
Dann rief LaManche mich auf meinem Handy an.
»Temperance?« Er alleine verweigerte sich dem eher benutzerfreundlichen »Tempe«, das der Rest der Welt verwendete. Mein Name rollte von LaManches Zunge wie ein hochpariserisches Tempéronce.
»Oui.« Mein Hirn schaltete sofort auf Französisch um.
»Wo sind Sie?«
»Montreal.«
»Dachte ich mir schon. Der Flug war gut?«
»So gut, wie’s geht.«
»Das Fliegen ist auch nicht mehr das, was es mal war.«
»Nein.«
»Können Sie morgen früher reinkommen?« Ich ahnte Anspannung in der Stimme des alten Mannes.
»Natürlich.«
»Ein Fall ist eingetroffen, der …«Ein kurzes Zögern. »… kompliziert ist.«
»Kompliziert?«
»Ich glaube, ich erkläre Ihnen das lieber persönlich.«
»Acht Uhr?«
»Bon.«
Beim Auflegen spürte ich eine leichte Beklommenheit. LaManche rief mich nur selten an. Und wenn er es tat, dann hatte er nie gute Nachrichten. Fünf verbrannte Biker in einem Chevrolet Blazer. Eine Frau mit dem Gesicht nach unten im Pool eines Senators. Fünf Leichen in einem Hohlraum unter einem Haus.
LaManche war seit dreißig Jahren forensischer Pathologe und seit zwanzig Leiter unserer gerichtsmedizinischen Abteilung. Er wusste, dass ich an diesem Tag zurückkommen und mich sofort am nächsten Morgen im Institut melden würde. Was konnte so kompliziert sein, dass er meinte, sich meiner Verfügbarkeit versichern zu müssen?
Oder so grausig.
Während ich auspackte, einkaufen ging, den Kühlschrank bestückte und einen Nizza-Salat aß, gingen mir diverse Szenarios durch den Kopf, eins schlimmer als das andere.
Als ich ins Bett stieg, beschloss ich, mein Eintreffen auf sieben Uhr dreißig vorzuverlegen.
Einen Vorteil hat das Fliegen: Es macht einen müde. Trotz meiner Befürchtungen schlief ich schon während der Elf-Uhr-Nachrichten ein.
Der nächste Morgen war wie aus einem Reiseprospekt. Milde Luft. Eine leichte Brise. Türkisblauer Himmel.
Da ich bereits sehr viel länger, als ich zugeben will, nach Montreal pendle, war ich mir sicher, dass dieser klimatische Ausreißer nur kurzfristig sein würde. Ich wollte eine Fahrradtour machen, auf dem Berg picknicken, auf dem Weg am Lachine-Kanal Rollerblades fahren.
Alles,außer sich mit LaManches »kompliziertem« Fall herumschlagen müssen.
Um sieben Uhr vierzig parkte ich am Édifice Wilfrid-Derome, einem T-förmigen Hochhaus in einem Arbeiterviertel
knapp östlich des centre-ville. Das Gebäude funktioniert folgendermaßen:
Das Laboratoire de Sciences Judiciaires et de Médecine Légale, das LSJML, ist das zentrale gerichtsmedizinische Institut für die gesamte Provinz Quebec. Uns
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