Knochen zu Asche
Wer weiß das schon. Ich biss auf jeden Fall an.
»War der Prinz bei ihr?«
Das Mädchen nickte.
»Wie ist dieses Tracadie denn so?« Bei mir klang es wie Track-a-day.
Das Mädchen zuckte die Achseln. »Un beau petit village. Ein kleines Städtchen.«
»Ich bin Temperance Brennan. Du kannst mich Tempe nennen. «
»Évangéline Landry.«
»Ich bin acht.«
»Ich bin zehn.«
»Willst du meine Geschenke sehen?«
»Dein Buch mag ich sehr.«
Ich lehnte mich wieder zurück. Évangéline setzte sich im Schneidersitz neben meinen Stuhl in den Sand. Eine Stunde lang redeten wir über Anne und diese berühmte Farm auf Prince Edward Island.
So begann unsere Freundschaft.
Die achtundvierzig Stunden nach meinem Geburtstag waren stürmisch, der Himmel wechselte tagsüber zwischen Zinngrau und kränklichem Graugrün. Der Regen kam in windgepeitschten
Güssen und spritzte salzige Tropfen auf die Fenster von Grandmas Haus.
Immer wenn es gerade einmal nicht regnete, bettelte ich, an den Strand gehen zu dürfen. Doch Grandma erlaubte es mir nicht, sie fürchtete die Unterströmungen in der Brandung, die in weißer Gischt über den Sand rollte. Frustriert starrte ich durch die Fenster hinaus, doch Évangéline Landry war nirgends zu sehen.
Schließlich riss der Himmel auf, blaue Flecken verdrängten die Wolken. Die Schatten unter dem Strandhafer und den Plankenwegen über die Dünen wurden schärfer. Die Vögel trällerten wieder. Die Temperatur stieg, und die Luftfeuchtigkeit verkündete, dass sie im Gegensatz zum Regen nicht wieder verschwand.
Trotz des Sonnenscheins vergingen Tage, ohne dass ich von meiner Freundin etwas sah.
Ich fuhr gerade Rad, als ich sie die Myrtle Avenue entlangschlendern sah, den Kopf nach vorn gestreckt wie eine Schildkröte, einen Lutscher im Mund. Sie trug Flipflops und ein ausgewaschenes Beach-Boys-T-Shirt.
Sie blieb stehen, als ich neben ihr anhielt.
»Hey«, sagte ich und stellte einen Turnschuh vom Pedal auf den Asphalt.
»Hi«, sagte sie.
»Hab dich ’ne Weile nicht gesehen.«
»Musste arbeiten.« Sie wischte sich klebrig rote Finger an ihren Shorts ab.
»Du hast einen Job?« Ich staunte, dass man einem Kind eine so erwachsene Beschäftigung gestattete.
»Mein Onkel fischt vor Murrell’s Inlet. Manchmal helf ich ihm auf dem Boot.«
»Toll.« Visionen von Gilligan, Ginger und dem Captain.
»Pff.« Sie prustete die Luft durch die Lippen. »Ich kratz die Innereien aus den Fischen.«
Ich schob mein Fahrrad, und wir gingen nebeneinanderher.
»Manchmal muss ich auf meine kleine Schwester aufpassen«, sagte ich, um eine gewisse Gleichheit herzustellen. »Sie ist fünf.«
Évangéline drehte sich mir zu. »Hast du einen Bruder?«
»Nein.« Mit brennendem Gesicht.
»Ich auch nicht. Meine Schwester Obéline ist zwei.«
»Dann musst du also Fische putzen. Ist aber trotzdem toll, den Sommer am Strand zu verbringen. Wo du herkommst, ist es da ganz anders?«
Irgendetwas funkelte in Évangélines Augen und war wieder verschwunden, bevor ich es deuten konnte.
»Meine Mama ist dort. Im Krankenhaus hat man sie entlassen, deshalb hat sie jetzt zwei Jobs nebeneinander. Sie will, dass Obéline und ich gut Englisch lernen, deshalb bringt sie uns hierher . C’est bon. Meine Tante Euphémie und mein Onkel Fidèle sind nett.«
»Erzähl mir von diesem Urwald.« Ich wollte vom Thema Familie ablenken.
Évangélines Blick folgte einem vorbeifahrenden Auto und kehrte dann wieder zu mir zurück.
»L’Acadie ist der schönste Flecken Erde auf der ganzen Welt.«
Offensichtlich.
Den ganzen Sommer lang erzählte Évangéline Geschichten aus ihrer Heimat in New Brunswick. Ich hatte natürlich schon von Kanada gehört, aber meine kindliche Fantasie reichte kaum über Mounties und Iglus hinaus. Oder Hundeschlitten, die an Karibus und Eisbären vorbeisausten, oder Seehunde auf Eisschollen. Évangéline erzählte von dichten Wäldern, Steilklippen oder Orten mit Namen wie Miramichi, Kouchibouguac oder Bouctouche.
Sie erzählte außerdem von der akadischen Geschichte, von der Vertreibung ihrer Vorfahren aus ihrer Heimat. Wieder und
wieder hörte ich ihr zu und stellte Fragen. Erstaunt. Entrüstet über die nordamerikanische Tragödie, die ihre Leute Le Grand Dérangement nannten. Dass die französischen Akadier durch einen britischen Deportationsbefehl ins Exil getrieben und ihres Landes und ihrer Rechte beraubt wurden.
Évangéline war es, die mir die Poesie näherbrachte. In diesem Sommer
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