Knochen zu Asche
gehören die beiden obersten Stockwerke des Gebäudes, zwölf und dreizehn. Das Bureau du Coroner befindet sich auf zehn und elf. Die Leichenhalle und die Autopsieräumlichkeiten befinden sich im Keller. Die Provinzpolizei, La Sûreté du Québec, oder SQ, beansprucht den übrigen Platz.
Ich zog meine Sicherheitskarte durch den Scanner, ging durch Metalltüren, betrat den nur für LSJML/Coroner zugelassenen Aufzug, zog die Karte noch einmal durch und fuhr mit einem Dutzend anderen, die alle »Bonjour« und » Comment ça va?« murmelten, in die Höhe. Um diese Uhrzeit sind »Guten Morgen« und »Wie geht’s?« in jeder Sprache nur oberflächlich gemeint.
Vier von uns stiegen im zwölften Stock aus. Nach dem Empfangsbereich zog ich eine zweite Karte durch einen Scanner und betrat das Institut. Durch Beobachtungsfenster und offene Türen sah ich Sekretärinnen, die Computer hochfuhren,Techniker, die in Tabellen blätterten, Wissenschaftler und Analysten, die Labormäntel anzogen. Jeder hatte Kaffee griffbereit.
Hinter ein paar Kopiergeräten zog ich die Karte noch einmal durch. Glastüren gingen zischend auf, und ich betrat den gerichtsmedizinischen Flügel.
Die Anwesenheitstafel zeigte, dass vier von fünf Pathologen im Haus waren. In dem Kästchen neben Michel Morins Namen stand: Témoignage: Saint-Jérôme. Zeugentermin in Saint-Jérôme.
LaManche saß hinter seinem Schreibtisch und stellte die Fallliste für die Personalbesprechungen dieses Morgens zusammen. Obwohl ich an seiner Tür kurz stehen blieb, hob er den Blick nicht von seinen Papieren.
Weiter den Korridor entlang, kam ich links an den Pathologie-, Histologie- und Anthropologie/Odontologie-Laboren und rechts an den Büros der Pathologen vorbei. Pelletier. Morin. Santangelo. Ayers. Das meine war das letzte in dieser Reihe.
Noch mehr Sicherheit. Ein Schlüssel für ein gutes, altmodisches Zylinderschloss.
Ich war einen Monat weg gewesen. Das Büro sah aus, als wäre ich weg gewesen, seit wir in dieses Gebäude eingezogen waren.
Fensterputzer hatten die gerahmten Bilder meiner Tochter Katy und alle anderen Souvenirs vom Fensterbrett auf einen Aktenschrank gestellt. Bodenpfleger hatten den Papierkorb und zwei Pflanzen auf dem danach praktischerweise leeren Fensterbrett platziert. Neue Spurensicherungs-Overalls und -Stiefel stapelten sich auf einem Stuhl, frische Labormäntel auf einem anderen. Mein laminiertes Dubuffet-Poster war von der Wand gefallen und hatte einen Bleistifthalter umgeworfen.
Auf meinem Schreibtisch stapelte sich Material, das man aus meinem Postfach im Sekretariat hierher transferiert hatte. Briefe, Prospekte, Werbung. Darüber hinaus konnte ich noch Folgendes identifizieren: eine aktualisierte Liste der internen Durchwahlnummern; vier Umschläge mit Abzügen von den Fotografen der Section d’identité judiciaire; zwei Sätze antemortaler Röntgenaufnahmen und zwei medizinische Berichte; ein Exemplar von Voir Dire, dem Klatschblättchen des LSJML; und drei demande d’expertise en anthropologie -Formulare, also Anforderungen für anthropologische Gutachten.
Nachdem ich die verstreuten Kulis und Bleistifte wieder eingesammelt hatte, ließ ich mich auf meinen Stuhl fallen, räumte ein kleines Stück der Tischplatte frei und nahm mir die erste Anforderung vor.
Pathologe: M. Morin. Ermittelnder Beamter: H. Perron. Service de Police de la Ville de Montréal. SPVM. Früher unter
dem Namen Service de Police de la Communauté urbaine de Montréal oder SPCUM bekannt, war die SPVM die städtische Polizei. Dieselbe Truppe, neues Image. Nom: Inconnu. Name: Unbekannt. Die jeweiligen Fallnummern von LSJML, Leichenhalle und Polizei ließ ich aus und wandte mich gleich der Zusammenfassung der bekannten Fakten zu.
Auf einer Baustelle westlich von centre-ville waren bei Aushubarbeiten Skelettteile entdeckt worden. Ob ich bestimmen könnte, ob die Knochen menschlich waren? Und wenn, von wie vielen Personen? Eintritt des Todes? Falls jüngeren Datums, könnte ich Alter, Geschlecht, Rasse und Größe bestimmen und charakteristische Merkmale für jeden Knochensatz beschreiben? Könnte ich die Todesart bestimmen?
Das Alltagsgeschäft eines forensischen Anthropologen.
Das zweite Formular kam ebenfalls von SPVM, der Stadtpolizei. Emily Santangelo war die zuständige Pathologin und koordinierte deshalb alle Fachgutachten in Bezug auf die Leiche. In diesem Fall ging es um ein Feuer in einem Wohnhaus, eine verbrannte Leiche und ein bis zur
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