Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
wird. Deshalb würde ich unter gewöhnlichen Umständen nicht gestatten …«
»Wir können dieses Tier retten«, unterbricht sie mich, und es ist offensichtlich, dass sie sich nicht dafür interessiert, was ich gestatte. »Aber nur, wenn wir sofort handeln.« Wie sie das sagt, lässt in mir keinen Zweifel offen, dass sie weder auf mich noch auf sonst jemanden warten wird. Eigentlich kann ich ihr das nicht zum Vorwurf machen.
»Natürlich müssen Sie tun, was nötig ist. Allerdings wäre es sehr hilfreich, wenn jemand die Aktion mit Fotos oder auf Video dokumentieren könnte«, erkläre ich ihr, während ich aufstehe. Als ich den Teppich unter meinen bestrumpften Füßen spüre, muss ich wieder daran denken, dass man nie weiß, welche eigenartigen Kapriolen das Leben schlagen kann, nicht einmal von einer Minute zur nächsten. »Verändern Sie so wenig wie möglich an den Schnüren und Haken, und achten Sie darauf, dass nichts verschwindet«, teile ich ihr mit.
Fünf
Inzwischen in der dunkelblauen Baumwolluniform des CFC mit aufgesticktem Emblem auf der Brusttasche und die grell orangefarbene Jacke über dem Arm, steige ich in den Aufzug hinter dem Pausenraum. Endlich sind wir einen Moment allein. Marino stellt die beiden schwarzen Tatortkoffer aus Hartplastik ab und drückt auf den Knopf fürs Untergeschoss.
»Soweit ich informiert bin, warst du die ganze Nacht hier«, stelle ich fest, während er ungeduldig wieder auf den Knopf drückt, eine Angewohnheit von ihm, die keinen praktischen Zweck erfüllt.
»Habe über dem Papierkrieg die Zeit vergessen. Und da war es das Einfachste, hierzubleiben.«
Er steckt die riesigen Hände in die Seitentaschen seiner Cargohose. Sein Bauch ragt wie ein Gebirge über den Leinengürtel. Er hat zwar zugenommen, aber seine Schultern sind muskulös, und ich erkenne an seinem kräftigen Hals, am Bizeps und an den Beinen, dass er immer noch in dem Fitnessclub am Central Square, wo er Mitglied ist, Gewichte stemmt. Irgendein Kampfsportverein, oder wie er das auch immer nennt, der hauptsächlich von Polizisten besucht wird. Die meisten gehören zum Sondereinsatzkommando.
»Einfacher als was?« Ein abgestandener Schweißgeruch durchdringt die Schwaden von Brut-Rasierwasser. Vielleicht hat er ja auch die ganze Nacht durchgesoffen und einen Karton Minifläschchen von Crystal Head vernichtet. Wer weiß? »Gestern war Sonntag«, fahre ich in nachsichtigem Ton fort. »Und da du nicht zum Dienst eingeteilt und gerade von einer Reise zurückgekommen warst, verstehe ich nicht ganz, was genau einfacher gewesen sein soll. Und wenn wir schon einmal beim Thema sind. Weil ich seit einiger Zeit keine aktualisierten Dienstpläne mehr bekomme, war mir nicht klar, dass du selbst Einsätze übernimmst und offenbar …«
»Der elektronische Kalender ist der letzte Mist«, bricht es aus ihm heraus. »Dieser ganze digitalisierte Datenschwachsinn. Warum kann Lucy nicht die Finger davon lassen? Du weißt, was du wissen musst, und zwar, dass hier jemand seine Arbeit macht. Und dieser Jemand bin ich.«
»Mir war nicht bekannt, dass der Chefermittler seit neuestem Bereitschaftsdienste übernimmt. Das war bei uns noch nie üblich, wenn es nicht um einen Notfall geht. Außerdem ist es bei uns nicht üblich, dass Sitten herrschen wie auf einer Feuerwache. Und das heißt, dass hier niemand auf Luftmatratzen übernachtet und wartet, bis die Alarmsirene schrillt.«
»Wie ich sehe, hat jemand gepetzt. Es ist sowieso alles nur ihre Schuld.« Er setzt die Sonnenbrille auf, eine Ray-Ban mit Metallgestell, die er schon trägt, seit ich ihn kenne. Bryce nennt sie Marinos
Ein-ausgekochtes-Schlitzohr-
Brille.
»Der diensthabende Ermittler hat an seinem oder ihrem Arbeitsplatz wach zu sein und jederzeit ans Telefon zu gehen«, entgegne ich ruhig, um klarzustellen, dass ich keinen Widerspruch dulde. »Und was ist wessen Schuld?«
»Diese Dreckslucy hat mich bei Twitter erwischt, und so hat das alles erst angefangen.«
Wenn er »Dreckslucy« sagt, weiß ich, dass er das nicht ernst meint. Die beiden sind nämlich dicke Freunde.
»Ich finde es nicht fair, dass du sie für die Twitter-Sache verantwortlich machst, wenn du derjenige bist, der twittert, was du offenbar getan hast«, erwidere ich in demselben gelassenen Tonfall. »Außerdem hat sie dich nicht verpetzt, sonst hätte ich einige Dinge schon viel früher erfahren. Wenn Sie über dich gesprochen hat, dann nur, weil du ihr wichtig bist, Marino.«
»Sie ist
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