Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
ihm.
Die Verteidigung hat mich vor Gericht zitiert, weil Channing Lott mein Erscheinen wünscht. Und zwar einzig und allein deshalb, weil das Gesetz ihm die Möglichkeit gibt, mich dazu zu zwingen. Ein von einem Forensikexperten verfasster Bericht spricht nämlich inzwischen nur noch dann für sich, wenn sich beide Parteien einig sind, dass der jeweilige Wissenschaftler, Rechtsmediziner oder Spurensicherungsexperte nicht persönlich anwesend zu sein braucht. Die Begründung des Obersten Gerichtshofs, ein Dokument könne man im Gegensatz zu einem Menschen nicht ins Kreuzverhör nehmen, klingt in meinen Ohren zwar plausibel, hat aber leider auch zur Folge, dass überarbeitete und unterbezahlte Experten sich überdies öffentlich beleidigen und in der Luft zerreißen lassen müssen.
Heutzutage birgt jede schriftliche Mitteilung das Risiko eines Auftritts vor Gericht, selbst wenn es sich dabei nur um eine mit einem Stimmerkennungsprogramm generierte Nachricht oder eine handschriftliche Notiz auf einem Post-it-Zettel handelt. Das Ergebnis ist, dass einige wichtige Mitarbeiter meines Instituts angefangen haben, sich vor der praktischen Arbeit zu drücken. Solange sie nur einen Bogen um Tatorte und Autopsien machen und sich ihre fachliche Meinung oder gar einen gelegentlichen Scherz verkneifen, besteht keine Gefahr einer Vorladung. Und das ist auch einer der Gründe, warum es mir gar nicht gefällt, dass Marino den diensthabenden Ermittler nach Hause schickt, damit er ungestört im CFC übernachten kann.
»Wenn man nicht aufpasst«, sage ich zu ihm, »hat man irgendwann keine Zeit mehr für die eigentliche Arbeit. Ich werde heute vor den Kadi gezerrt, weil ich Steward, der nur meine Meinung hören wollte, eine Mail geschickt habe. Mehr steckt nicht dahinter. Meine Meinung und eine zugegebenermaßen flapsige Bemerkung in einer E-Mail, und schon ist ein Beweisstück geschaffen. Tastenanschlag für Tastenanschlag. Und da wunderst du dich, warum ich die Finger von Twitter und Ähnlichem lasse. Alles kann und wird gegen einen verwendet.«
Mehr werde ich auf einem Boot der Küstenwache, dessen Besatzung jedes Wort mithört, nicht zu ihm sagen. Wenn der richtige Zeitpunkt da ist, werden Marino und ich ein Gespräch über Installationen führen. Und auch über die sonstigen Vorgänge in seinem Leben, die dazu geführt haben, dass er die Ermittlungsabteilung des CFC als Motel benutzt, weil er nicht nach Hause will.
»Gleich sind wir da!«, verkündet Labella und überprüft dabei das Echolot und die Signale anderer Boote im Funk.
Vor uns breitet sich eine fächerförmige Wasserfläche aus, die im Norden und Süden von den Fahrrinnen und vielen Inseln begrenzt wird. Wir kommen rechts an grünen Kanalmarkierungen vorbei. Das Boot hebt und senkt sich, der Schwung drückt mich in meinen Sitz zurück.
»Almauftrieb«, verkündet Marino, als das Löschboot mit seiner rot blinkenden Notfallbeleuchtung in Sicht kommt. Darüber schwebt der Hubschrauber eines Nachrichtensenders. »Wer, zum Teufel, hat die Medien informiert?«
»Polizeifunkempfänger«, erwidert Labella, ohne sich in seinem Sitz umzudrehen. »Die Reporter hören unsere Frequenzen hier draußen auf dem Wasser ebenso ab wie an Land.«
Er fügt hinzu, er werde nun vom Gas gehen, während wir uns der
James S. Damrell
nähern, einem fünfundzwanzig Meter langen Löschboot mit einem glatten, rot-weißen Rumpf, vorgezogener Windschutzscheibe und Löschkanonen am Bug und auf dem Dach. Es wird von einem haigrauen Zodiac-Schlauchboot der Polizei, Fischer- und Freizeitbooten und einem großen Schiff mit gerafften roten Segeln umringt. Cops und Schaulustige, vielleicht sogar in Personalunion. Mir graut vor dem, was mir bevorsteht, insbesondere wegen des Publikums, und ich denke daran, wie würdelos es ist, wie Abfall weggeworfen oder im Meer verschollen zu sein und zu guter Letzt auch noch angegafft zu werden.
Ein sittichgrün lackierter Flüssiggastanker bewegt sich mit der Geschwindigkeit eines Gletschers vorwärts und macht einen großen Bogen um das blinkende Löschboot. Labella lenkt das Boot näher heran und schaltet den Motor in den Leerlauf. Ich erkenne die Meeresbiologin von dem Foto wieder, das Marino mir gezeigt hat. Pamela Quick und ein halbes Dutzend Tierschützer drängen sich auf dem Unterdeck und der Taucherplattform und beugen sich über ein Tier, das wie eine primitive Kreuzung zwischen Reptil und Vogel aussieht, ein evolutionäres Relikt aus der Zeit der
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