Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
Dreißiger schon lange hinter mir gelassen habe und faktisch jemandes Mutter sein könnte.
Für die jungen Männer, denen ich im Dienst begegne, bin ich vermutlich so etwas wie reifes Obst und Käse, serviert auf einer Platte aus teurem Porzellan. Vielleicht ein Bündel blaue Trauben und Feigen mit einem weichen Taleggio auf einem Teller, der mit einem prestigeträchtigen Wappen verziert ist. Oder eine Trophäe, wie Benton es angedeutet hat. Ich bin Chefin, ich bin Vorgesetzte, ich bekleide den Rang eines Colonel der Reserve bei der Air Force, und ich genieße hohes Ansehen im Pentagon. Wenn ich ehrlich mit mir bin, was Benton bestreitet, ist Macht die verbotene Frucht, von der die Labellas dieser Welt gern kosten würden. Eine Trophäe, denke ich. Eine nicht mehr ganz junge Trophäe und wegen meiner gesellschaftlichen Stellung attraktiv für attraktive Menschen.
Es geht nicht um mein Aussehen oder meine Persönlichkeit, obwohl ich nötigenfalls diplomatisch, ja, sogar charmant sein kann und auch noch nicht so angejahrt wirke, wie ich es eigentlich verdient hätte. Ich bin blond und habe markante Züge, und mein italienischer Knochenbau ist ein stabiles Gerüst, das mich in all den schwierigen Jahrzehnten gestützt hat, auch wenn es manchmal ganz schön knapp war. Meine schlanke gute Figur habe ich nicht irgendwelchen Anstrengungen zu verdanken, und ich witzle oft, ein Leben, umwabert von Formalindämpfen in fensterlosen Räumen und Kühlkammern, sei vermutlich der Grund, dass ich mich so gut gehalten hätte.
»Ich nehme jetzt dieses Ding ab.« Marino starrt weiter auf das große Plastikobjekt, als habe er es mit einer Bombe oder einem überdimensionalen Blutegel zu tun.
»Beckenknochen, Schlüsselbein und Brustbein sind harte Körperstellen, die einige tausend Pfund Druck aushalten können.« Ich klinge wie in einer Anatomievorlesung und spüre, dass die Mannschaft die Ohren spitzt. »Wie viele Verletzungen durch Sicherheitsgurte hast du schon gesehen? Tausende«, beantworte ich meine eigene Frage und übertöne dabei das Dröhnen der Außenbordmotoren, während ich noch einmal meine Mails aufrufe. »Insbesondere wenn der Schoßgurt bei einer Kollision nicht tief genug an den Hüften sitzt. Und was geschieht dann? Der gesamte Druck wird ans Gewebe und die inneren Organe weitergegeben. Und deshalb tragen wir solche Gurte wie die hier.«
»Mit wem sollen wir denn bitte kollidieren? Einem Scheißwal?«, ereifert sich Marino.
»Ich hoffe doch nicht.«
Wir rasen über die leichte Dünung und vorbei an den wie lange Finger ins Wasser ragenden Stegen und Anlegestellen, die noch aus der Zeit der Boston Tea Party stammen, während eine Boeing 777 von British Airways über unsere Köpfe hinwegbraust. Sie steuert auf den Logan Airport, östlich im Landesinneren, zu, dessen Landebahnen inmitten von Wasser und nur knapp oberhalb des Meeresspiegels liegen. Steuerbord ragt Bostons Finanzdistrikt funkelnd in den strahlend blauen Himmel. Hinter uns erhebt sich das Bunker Hill Memorial über den Navy Yard in Charlestown wie eine steinerne Version des Washington Monument.
»Lass mal schauen«, sage ich zu Marino. »Wie weit entfernt sind wir von den Terminals, einen halben Kilometer?«
»Nicht einmal das.« Stocksteif und angeschnallt sitzt er an seinem Platz und starrt durch die mit Wasser bespritzte Plexiglasscheibe nach draußen.
Der Flughafen erstreckt sich über Tausende von Hektar, die ins Wasser hineinragen. Das Fundament des verglasten Towers ruht auf zwei Betonpfeilern, die mich an Stelzen erinnern. Die steinernen Grundfeste sind erstaunlich nah; ich schätze, nicht einmal dreißig Meter links von uns.
»Natürlich hängt es vom genauen Standort des LAN -Netzwerks ab«, füge ich hinzu, während ich auf meinem iPhone »Einstellungen« anklicke und W- LAN aktiviere. »Aber ich habe schon oft genug in einem Flugzeug auf der Startbahn festgesessen und mich von dort aus ins Netzwerk des Logan Airport eingeklinkt«, überschreie ich den Motorenlärm und das Poltern des Bootes auf dem Wasser. »Ich empfange inzwischen kein Signal mehr. Wenn die Person die Mail also von einem Boot aus abgeschickt hat, muss dieses praktisch an den Felsen genau neben der Startbahn gelegen haben.«
»Vielleicht hatte derjenige ja einen Router auf dem Boot«, schlägt Marino vor.
»Lucy ist absolut sicher, dass sie von einem iPhone versendet wurde. Aber das kann man vermutlich mit einem Router koppeln, um leichter in ein nicht abgesichertes
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