Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
Netzwerk eindringen zu können«, räume ich ein, während wir an dem geschwungenen Glaspalast, Sitz des Bundesgerichts, und dem dazugehörigen öffentlichen Park am Fan Pier vorbeikommen.
Wieder werfe ich einen Blick auf meine Mails. Nichts. Also schicke ich Dan Steward noch eine Nachricht, um ihm mitzuteilen, dass ich unterwegs zu einem Leichenfundort bin und bei meiner Rückkehr ins Büro eine vermutlich schwierige Autopsie werde durchführen müssen.
Bitte prüfen Sie nach, ob mein geplantes Erscheinen um 14 : 00 noch immer nötig ist.
Ich hoffe weiter, dass sich meine Anwesenheit inzwischen erübrigt. Und zwar ziemlich verzweifelt.
Dass Channing Lotts Anwältin mich hat vorladen lassen, ist absolut absurd und reine Schikane und verfolgt nur die Absicht, mich einzuschüchtern und bloßzustellen. Allerdings erwähne ich das Steward gegenüber natürlich nicht. Überhaupt halte ich mich in E-Mails oder anderen schriftlichen Nachrichten inzwischen bedeckt, und mir graut schon, wenn ich mir die möglichen Schlagzeilen von morgen ausmale.
Gerichtsmedizinerin sagt, Lotts Frau hat sich in Seife verwandelt.
In einer Sonntagnacht im März ist Mildred Lott aus ihrer Villa am Meer in Gloucester, etwa fünfzig Kilometer nördlich von hier, verschwunden. Aufnahmen der Infrarot-Überwachungskameras zeigen, dass sie kurz vor 22 Uhr eine Tür öffnet und aus dem Haus in den Garten tritt. Es ist ziemlich dunkel, als sie, nur mit Morgenmantel und Pantoffeln bekleidet, zur Kaimauer geht. Man hat mir mitgeteilt, dass sie dabei offenbar mit jemandem gesprochen hat. Laut Kameraufzeichnung ist sie nicht ins Haus zurückgekehrt, und als am nächsten Morgen ihr Fahrer erschien, um sie zu einem Termin zu bringen, kam sie weder an die Tür noch ans Telefon. Daraufhin begab sich der Fahrer zur Rückseite des Hauses, wo er feststellte, dass eine Tür weit offen stand und die Alarmanlage deaktiviert war.
Gelöschte E-Mails, die die Polizei wiederhergestellt hat, führten direkt zu Channing Lott, dessen Frau eigentlich gar nicht mein Fall ist. Ihre Leiche wurde nämlich nie gefunden, und ich bin einzig und allein wegen einer Mail einbestellt worden, die ich im letzten Frühling abgeschickt habe, ohne mir weiter Gedanken darüber zu machen. Damals wollte Dan Steward wissen, wie lange es wohl dauert, bis eine dieses Jahr bei Gloucester ins Meer geworfene Leiche vollständig verwest ist und was mit ihren Knochen geschehen sein könnte.
Ich habe geantwortet, im kalten Wasser würde sich die Leiche zunächst eine Zeitlang halten, obwohl Fische und anderes Meeresgetier sicher einige Schäden anrichten würden. Ich fügte hinzu, die Verseifung könne bis zu einem Jahr dauern, denn so lange brauche der Körper, um Adipocire zu bilden, das Ergebnis einer anaeroben bakteriellen Hydrolyse des Fettgewebes. Mit anderen Worten habe ich den Fehler begangen, in meiner Mail zu schreiben, eine Leiche, die lange Zeit unter Wasser liege,
verwandele sich mehr oder weniger in Seife.
Und mit dieser Aussage möchte mich Channing Lotts Anwältin heute vor Gericht konfrontieren.
»Falls ich wirklich um zwei zum Gericht muss, wäre es vermutlich gut, wenn du mitkommen würdest«, sage ich zu Marino, weil ich bereits ahne, was geschehen wird: Ich werde mich nicht drücken können. »Vielleicht sollte Bryce auch mit von der Partie sein. Ich fürchte, es wird von Reportern nur so wimmeln.«
»So ein Schwachkopf«, entgegnet Marino. »Da erstickt der Typ im Geld und versucht, den Killer über den Tisch zu ziehen.«
»Deshalb bin ich nicht vorgeladen worden«, entgegne ich, leicht ungeduldig.
»Irgend so einen miesen Kerl, den er aus dem Internet gefischt hat. Craigslist oder sonst irgendwo. Und dann wundert er sich, wenn er erwischt wird«, fährt Marino fort.
»Ich spreche eher vom Missbrauch des Rechtssystems«, antworte ich. »Von einer Pervertierung der Gerechtigkeit.«
Inzwischen sind wir am Hafen und der massiven Steinfestung Fort Independence vorbei, wo Boston im Krieg von 1812 gegen die Briten verteidigt worden ist. Wir entfernen uns von Deer Island mit seinen ostereierähnlichen Klärschlamm-Recycling-Anlagen. Die graue sandige Küste von Hull umschließt einen Hafen, in dem sich kleine Boote drängen, und aus den Hügeln erhebt sich eine anmutige weiße Windmühle. Ich gebe Marino den Rat, vorsichtig zu sein, damit ihn nicht das gleiche Schicksal ereilt wie mich.
»Es war eine ernüchternde Erfahrung, zu sehen, was alles möglich ist«, sage ich zu
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