Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
eingepfercht werden wie die Ölsardinen. Diese Leute behandeln ihre Tiere schändlich, auch die Hunde.«
Mit einem Zischen trifft eine SMS auf ihrem iPhone ein. Sie liest sie.
»Die Abwässer leiten sie dann in Bäche und Flüsse.« Sie tippt eine Nachricht mit den Daumen und schmunzelt dabei, als habe sie den Adressaten gern oder fände ihn amüsant. »Hoffentlich erwischen wir diese Arschlöcher in flagranti, damit ihnen der Laden dichtgemacht wird.«
»Ich hoffe eher, dass du vorsichtig bist.« Ihr neu entdecktes Umweltbewusstsein besorgt mich ein wenig. »Wenn man den Lebensunterhalt anderer Leute gefährdet, kann das unerfreuliche Folgen haben.«
»So wie bei ihr?« Sie deutet auf meinen Computer und die Bilder, die ich darauf betrachte.
»Ich habe keine Ahnung«, räume ich ein.
»Wessen Lebensunterhalt hat Emma Shubert gefährdet?«
»Ich weiß nur, dass sie zwei Tage vor ihrem Verschwinden einen Zahn gefunden hat«, antworte ich. »Offenbar ist es seit langem der erste in einer sedimentären Schicht, einem sogenannten Knochenbett, entdeckte Zahn. Sie und einige andere Wissenschaftler hatten erst vor einigen Sommern mit den Ausgrabungen dort angefangen.«
»Ein Knochenbett, das sich als das ergiebigste von allen erweisen könnte«, ergänzt Lucy. »Der Begräbnisplatz einer ganzen Dinosaurierherde, deren Tiere alle gleichzeitig gestorben sind, ist etwas wirklich Ungewöhnliches, ja, vielleicht sogar Einmaliges. Es ist eine noch nie da gewesene Chance, vollständige Skelette zusammenzusetzen und damit ein Museum einzurichten, das Touristen, Dinofreunde und Naturliebhaber aus der ganzen Welt anziehen würde. Außer natürlich, das Gelände wäre verseucht, dann käme nämlich niemand.«
Man kann nichts über Grande Prairie lesen, ohne dass darin nicht die wirtschaftliche Bedeutung der dortigen Erdgas- und Erdölvorkommen erwähnt würde.
»Über zweitausendfünfhundert Kilometer lange Pipelines wird synthetisches Rohöl aus den Teersänden von Alberta in die Raffinerien im Mittleren Westen und dann bis zum Golf von Mexiko transportiert«, erklärt Lucy und verschwindet in meinem Bad, wo auf der Ablage neben dem Waschbecken eine Kaffeepadmaschine und eine Espressomaschine stehen. »Umweltverschmutzung, Treibhauseffekt, die absolute Zerstörung.«
»Nimm die MonoDose von Illy. In der silbernen Dose«, rufe ich ihr nach. »Für mich einen Doppelten.«
»Ich brauche heute Morgen einen Café Cubano.«
»Der Rohrzucker ist im Schrank«, erwidere ich, trinke den letzten Schluck kalten Kaffee und drücke wieder auf Play.
Was habe ich übersehen? Irgendetwas muss da sein.
Ich werde dieses Bauchgefühl nicht los und mustere noch einmal die überbelichtete Gestalt, deren Züge im grellen Sonnenschein nicht auszumachen sind. Offenbar ist die Person nicht sehr groß, also entweder eine Frau oder ein zierlich gebauter Mann, ja, vielleicht sogar ein älteres Kind, das einen Sonnenhut mit Schleier und einer breiten Krempe trägt. Er oder sie hält den Hut mit zwei Fingern der linken Hand fest, vielleicht, damit er nicht davongeweht wird, aber ich bin nicht sicher.
Ich kann keine Einzelheiten im dunklen Gesicht der Gestalt erkennen. Auch nicht an der Kleidung, nur dass es eine langärmelige Jacke oder ein weites Hemd und eben der Sonnenhut zu sein scheint. Ein kaum wahrzunehmendes Funkeln im rechten Schläfenbereich weist auf eine Brille, womöglich eine Sonnenbrille, hin. Ich weiß also nicht viel mehr als vor etwa zwölf Stunden, als mir der Anhang per E-Mail zugegangen ist.
»Vom FBI habe ich nichts mehr gehört, doch Benton hat für heute eine Besprechung anberaumt, vorausgesetzt, ich komme rechtzeitig vom Gericht zurück«, übertöne ich das Zischen der Espressomaschine. »Eigentlich eher eine lockere Unterhaltung, denn bis auf das Video ist ja noch nichts passiert.«
»Doch, ist es«, ertönt Lucys Stimme aus dem Bad. »Jemandem ist das Ohr abgeschnitten worden.«
Drei
Der äußere Rand des Ohrs, die Ohrmuschel, ist offenbar säuberlich vom Bindegewebe des Schläfenmuskels abgetrennt worden.
Ich habe das Bild so stark vergrößert, wie es möglich war, ohne dass alles verschwimmt. Die sichtbaren Ränder der Schnittwunde wirken scharf und regelmäßig. Ich kann weder bleiche Stellen noch einen Hinweis darauf erkennen, dass das durchtrennte Gewebe umgestülpt oder eingesackt ist, was ich erwarten würde, hätte die Amputation lange nach dem Tod stattgefunden – zum Beispiel, wenn das Ohr von einer
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