Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
was mich in meinem Verdacht bestätigt. Der Abgrund zwischen uns ist tief und leer, während der Regen auf uns herniederpeitscht und totes Laub durch die Luft segelt wie Fledermäuse.
»Ja, er wurde reingelegt, das glaube ich auch«, antwortet Benton endlich; er klingt beinahe müde. »Der Himmel weiß, warum sich überhaupt jemand diese Mühe macht. Der Mann ist nämlich sehr wohl in der Lage, sich selbst ein Bein zu stellen. Dazu braucht er, verdammt noch mal, keine Hilfe.«
»Wo ist er? Hoffentlich ist er jetzt nicht allein.«
»Bei Lucy. Durch sein ruppiges und unkooperatives Verhalten hat er es geschafft, sich noch tiefer reinzureiten.«
Ich schaue in die Spiegel. Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos blenden mich so, dass mir die Augen tränen.
»Er ist trotzig wie ein kleiner Junge, verweigert die Mitarbeit und führt sich auf wie die Axt im Walde«, spricht Benton weiter. Sein Tonfall hat sich verändert, als wolle er mir mitteilen, dass ich nicht mehr von ihm erfahren werde.
»Kein Wunder, dass er außer sich ist«, höre ich mich sagen, während mir plötzlich ein Licht aufgeht.
An die Beobachtungsfenster mit Blick auf die Autopsiesäle habe ich bis jetzt gar nicht gedacht.
»Ich kann mir gut vorstellen, wie peinlich ihm das ist und wie wütend es ihn macht«, füge ich hinzu, obwohl mich eigentlich etwas anderes beschäftigt.
Ich hatte die Lehrlabors ganz vergessen. Nie wäre mir eingefallen, dass jemand dort oben in der Dunkelheit sitzen könnte.
»Er hat eindeutig das Talent, sein schlimmster Feind zu sein.« Ich spreche weiter, auch wenn ich gedanklich nicht bei der Sache bin.
Benton war dort oben und hat mich beobachtet. Und in manchen Momenten hätte die Situation eindeutiger nicht sein können. Ich bin nicht ausgewichen. Ich habe nichts dagegen unternommen, weil ich es nicht konnte und wollte. Inmitten von Tod und Grauen habe ich diesen Mann begehrt, denn der Drang, sich lebendig zu fühlen, ist manchmal stärker als die Vernunft.
»Er tobt, wirft mit Beleidigungen um sich und verweigert jegliche Zusammenarbeit«, verkündet Benton, aber ich höre nur mit halbem Ohr zu.
Luke hat mich gefragt, und ich habe darüber nachgedacht. Kurz habe ich mir überlegt, wo und wann es möglich wäre, wie wir es anfangen sollten und wie wir damit durchkommen würden. Obwohl ich nein gesagt habe, habe ich eigentlich ja gemeint. Also waren Bentons Vorwürfe in Wien absolut zutreffend.
»Nach einer Weile musste ich rausgehen, um ihm nicht an die Gurgel zu springen.« Benton teilt mir mit, er habe den Konferenzraum im oberen Stockwerk verlassen.
Doch eigentlich heißt das, dass er uns durch die dunkle Glasscheibe eines Lehrlabors überwacht hat.
»Alles nur, weil er mit einer wildfremden Frau im Netz eine Beziehung anfangen musste, verdammt«, spricht Benton weiter.
»Willkommen in der Moderne«, entgegne ich sarkastisch. »So etwas soll öfter vorkommen.«
»Bei niemandem, den ich kenne.«
»Seit Doris weg ist, ist Marino entsetzlich einsam und fühlt sich leerer als ein schwarzes Loch, und zwar schon fast länger, als ihre Ehe eigentlich gedauert hat. Seitdem hatte er nichts als lockere Beziehungen, zum Großteil mit Frauen, die ihm weh getan und ihn ausgenutzt haben. Ein Horrorkabinett.«
»In Sachen Horrorkabinett und Missbrauch von Menschen hat er sich auch nicht lumpen lassen«, entgegnet Benton, und ich kann ihm nicht widersprechen.
Ich wüsste nicht, wie.
»Kein Mensch, mit dem ich zusammenarbeite, lernt Leute im Internet kennen, verdammt«, wiederholt er.
»Das kann ich mir kaum vorstellen.«
»Niemand wäre so dumm«, beharrt er. »Das Internet ist die neue Mafia. Es wird vom FBI verdeckt infiltriert und ausspioniert. Wir führen dort nicht unser Drecksprivatleben.«
»Nun, Marino kann leichtsinnig sein«, erwidere ich. »Er ist einsam, vermisst seine Frau und seinen Job als Polizist, fürchtet sich vor dem Älterwerden und kapiert das System nicht.«
Langsam fahre ich die Sixth Street entlang. Die Polizeizentrale von Cambridge ist im strömenden Regen kaum auszumachen. Art-déco-Laternen schimmern blau durch den Dunst.
»Mir will nicht in den Kopf, was jemand erreichen will, wenn er vorgibt, mit einer Frau zu twittern, die zum fraglichen Zeitpunkt nicht mehr am Leben gewesen sein kann«, merke ich an.
»Wie lange sie schon tot ist, werden nicht alle verstehen.«
»Du hast die Leiche gesehen. Was davon noch übrig ist.«
»Das ist alles eine Auslegungsfrage.« Es beunruhigt
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