Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
sind klein oder nicht vorhanden, Parkplätze knapp. Sicher achten die Nachbarn genau auf Fahrzeuge, die nicht hierhergehören.
»Ich habe keine Ahnung, was die beiden genau hin- und hergetwittert haben. Aber anscheinend stand er unter dem Eindruck, dass sie eine erfahrene Bowlingspielerin ist. Oder war.«
Vergeblich versuche ich, mir auszumalen, wie man eine Frau dazu zwingt, ihr Haus zu verlassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie in diesem Fall nicht geschrien oder sonst irgendwie Alarm geschlagen hätte, der sicher nicht unbemerkt geblieben wäre. Schweigend sitzen wir da, während der Regen aufs Autodach trommelt, in der Ferne Blitze zucken und der Donner grollt. Meiner Ansicht nach glaubt Benton nicht, dass Peggy Lynn Stanton in ihrem Haus getötet oder von dort entführt wurde, was ich ihm auf den Kopf zusage.
»Tatsache ist, dass wir das nicht wissen«, erwidert er. »Doug hat da ihre eigene Meinung, aber ich teile sie nicht unbedingt.«
»Und wie lautet deine?«
»Ich sage dir, wer es ist.«
»Hast du schon einen Verdächtigen im Visier?«
»Ich weiß, dass der Täter mindestens Ende zwanzig sein muss, aber vermutlich ist er älter.« Benton lässt den Blick über die dunkle, regennasse Straße schweifen. »Intelligent, gute Umgangsformen, gesellschaftlich angepasst, aber emotional isoliert. Hält keine Nähe aus. Die, die ihn zu kennen glauben, irren sich.«
»Er?«
»Ja.« Benton mustert Autos und Häuser. »Er ist mit Booten vertraut. Wahrscheinlich besitzt er selbst eines oder hat zumindest Zugriff darauf.«
Ich denke an Marinos Beharren, das CFC müsse sich unbedingt ein Boot anschaffen, und frage mich, wem er das sonst noch erzählt haben könnte.
»Kann es ohne Hilfe bedienen und ist fähig, es allein zu fahren.«
Benton kurbelt sein Fenster herunter und starrt hinaus in die Dunkelheit.
»Sehr redegewandt, schlagfertig, überzeugt, dass er jedem alles weismachen kann, auch der Polizei und der Küstenwache.«
Der hereinwehende Regen scheint ihn nicht zu kümmern.
»Wenn sein Boot einen Defekt gehabt hätte oder aufgehalten worden wäre, während er eine Leiche in Bord hatte, wäre es ihm sicher gelungen, alle um den Finger zu wickeln, und niemand hätte Verdacht geschöpft. Ein Mensch ohne Angst. Und mit genügend Geld.«
Marino ist Inhaber eines von der Küstenwache ausgestellten Bootsführerscheins.
»Ein narzisstischer Soziopath«, spricht Benton in Regen und Nacht hinaus. »Ein sexueller Sadist, den es erregt, andere zu ängstigen, zu quälen, zu demütigen und Macht über sie auszuüben.«
»Bis jetzt habe ich noch keine Hinweise auf einen sexuellen Übergriff gefunden«, wende ich ein.
»Er tut seinen Opfern keine sexuelle Gewalt an. Sie stoßen ihn körperlich ab, weil sie ihm unterlegen sind. Und diese Unterlegenheit lässt er sie deutlich spüren. Je länger ich darüber nachdenke, desto besser passt deine Beschreibung von der präparierten Toten ins Bild.«
»Ein Arrangement, das sie auseinanderreißen, sie köpfen und vielleicht sogar zum Verlust der gesamten Leiche führen sollte. Warum?«, frage ich. »Weil er eine Identifizierung verhindern wollte?«
»Weil es ihm nicht gereicht hat, sie zu töten. Schließlich konnte er den Mord nicht Tag für Tag wiederholen. Das hätte nicht gereicht, um seine innere Leere zu füllen, die ein schrecklicher Verlust in seinem früheren Leben hinterlassen hat.«
»Und du weißt, was für ein Verlust das ist?«
»Ich weiß es, weil sich diese Täter zwar voneinander unterscheiden, aber dennoch gleich ticken. Ein Ungeheuer, das unerkannt seinen ganz normalen Alltag lebt, während es in seinem Kühlschrank oder in der Gefriertruhe eine Leiche aufbewahrt, weil es sie und die Phantasie nicht loslassen kann. Und selbst als er entscheidet, sie endlich zu beseitigen, muss er sie noch ein letztes Mal vernichten. Er will, dass sie zerrissen wird und dass es dafür Zeugen gibt. Und diese Zeugen will er schockieren und verspotten. Es ist jemand, der seine Mitmenschen verhöhnt.«
Benton lässt das Fenster nach oben.
»Kannte er sie?«, frage ich.
Er wischt sich mit den Händen Regenwasser vom Gesicht.
»Er wusste, wen er umbringt«, antwortet er. »Peggy Stanton war nur ein Ersatz. Alle seine Opfer sind Ersatz. Er hat schon früher getötet und wird es noch einmal tun. Möglicherweise war es sogar schon wieder so weit, und er wird mit allen Beteiligten sein grausames Spiel treiben, weil es ihm Spaß macht.«
Scheibenwischer schieben
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