Knochenbrecher (German Edition)
Frau Suhrmann kurz um. Sie wich ein paar Grad von ihrem Kurs ab, doch die kleine Korrektur reichte aus, das Schiff näher an die Küste zu bringen. Für ein Plattbodenschiff war das kein Problem.
»Was schätzt du?«
»Keinen Meter Tiefgang. Damit kann die in jeder Pfütze segeln. Aber noch haben wir genug Wasser unterm Kiel. Das Pilsumer Watt ist tief genug«, meinte Gosselar.
Während sich die Tjalk dem Deich näherte, tastete sich der Kutter langsam an sie heran. Greven stellte das Glas zurück und stapfte in seinem ungewohnten Anzug zum Bug. Als das Heck der Tjalk auf gleicher Höhe lag, beugte er sich vor.
»Frau Suhrmann! Drehen Sie bei! Es hat keinen Zweck! Die Wasserschutzpolizei wird gleich hier sein!«
Sie reagierte nicht.
»Frau Suhrmann! Drehen Sie bei! Sie können nicht entkommen. Das Polizeiboot macht spielend zwanzig Knoten!«
Langsam drehte Suhrmann ihren Kopf zur Seite.
»Lassen Sie mich in Ruhe!«
»Das kann ich nicht, Frau Suhrmann. Sie haben zwei Morde begangen!«
»Die Hexen haben Morde begangen! Ich habe Ihnen nur Ihre Arbeit abgenommen. Dieses Schiff war der Lebenstraum von meinem Mann. Und meiner auch. Wir haben alles in dieses Schiff gesteckt. Alles. Als es endlich fertig ist, bringen ihn diese Hexen um.«
»Dafür gibt es keinen Beweis!«
»Ich weiß, was ich weiß!«
»Ihr Mann kann genauso gut an einem ganz alltäglichen Schlaganfall gestorben sein!«, entgegnete Greven.
»Ich weiß, was ich gelesen habe. Die Hexen haben sein Leben zerstört und damit auch meins. Ich habe nichts mehr! Und jetzt verschwinden Sie!«
»Was ist mit Aline?«
»Hauen Sie ab!«
»Sie wissen genau, dass das nicht geht!«, rief Greven, als am Horizont der Seenotrettungskreuzer auftauchte. Auch Frau Suhrmann bemerkte das leuchtende Rot der Brücke.
»Frau Suhrmann! Bitte! Geben Sie auf!«
Sie gab aber nicht auf, sondern schwenkte die Ruderpinne nach Steuerbord. Das Deck bewegte sich unter seinen Füßen, der Schiffsdiesel änderte die Melodie. Greven erwischte gerade noch die Bordwand. Wenige Meter vor dem Steven des Kutters segelte die Tjalk vorbei und ging mit halbem Wind auf Nordkurs. Aus dem Ruderhaus konnte Greven plattdeutsche Schimpfwörter wahrnehmen, dann nahm der Kutter die Verfolgung wieder auf. Auch der Seenotrettungskreuzer änderte seinen Kurs.
Gosselar brauchte nicht lange, um die Tjalk einzuholen, die nach dem seemännisch alles andere als korrekt durchgeführten Manöver an Fahrt verloren hatte. Noch bevor sie mit dem Heck der Tjalk auf gleicher Höhe fuhren, versuchte Greven, die Flüchtige zu erreichen: »Frau Suhrmann, geben Sie auf! Drehen Sie bei! Bergen Sie das Segel und gehen Sie längsseits!«
Die Antwort gab Frau Suhrmann mit der Ruderpinne, die sie diesmal nach Backbord schwenkte, um wieder auf Ostkurs zu gehen. Greven verlor für einen Augenblick den Halt, als der Fischer die Kursänderung nachvollzog, und nahm für einige Sekunden auf dem Deck Platz. Als er wieder über die Bordwand schaute, hatte Gosselar die Tjalk schon fast wieder erreicht. Noch einmal wollte Greven seine Stimme bemühen, doch Frau Suhrmann saß nicht mehr am Ruder. Sie war auch nicht dabei, das große Gaffelsegel zu bergen. Er suchte die Wasseroberfläche ab, konnte sie aber auch dort nicht ausmachen.
»Frau Suhrmann!«
Der Knall war dumpf und reichte aus, um Greven ein weiteres Mal auf die Planken zu schicken. Nicht die Druckwelle hatte ihn zu Boden geworfen, sondern das unmissverständliche Geräusch hatte ihn reflexartig hinter der Bordwand Schutz suchen lassen. Nur wenige Bruchstücke fanden den Weg zum Kutter, ein paar Mahagonisplitter, ein Rahmenteil von einem der kleinen, weißen Fenster.
Als der Niederschlag vorbei war, linste Greven vorsichtig über die Bordwand. Die Kajüte der Tjalk war an Backbord bis zu den Ladeluken aufgerissen und brannte. Auch das Segel hatte Feuer gefangen. Aus den Ladeluken stieg braungrauer Qualm auf. Greven tippte auf die Gasflasche in der Kombüse und die Kugel einer Leuchtpistole. Es sei denn, Suhrmann hatte von vornherein andere Vorkehrungen getroffen. Jedenfalls war es unmöglich, an Bord zu gehen und nach ihr zu suchen, denn die Flammen wuchsen schnell und hatten längst alle Aufbauten erfasst, als der Seenotrettungskreuzer eintraf. Mit ihren Löschkanonen gelang es den Rettungsmännern nach kurzer Zeit, zumindest die Flammen zu vertreiben, nicht aber den dichter werdenden Rauch. An Bord wagten sich auch die Seenotretter nicht. Dafür ließen sie das
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