Knochenbrecher (German Edition)
über sie, hielt ihr die Nase zu und nahm ihren Rhythmus wieder auf. Alines Augen waren geschlossen, ihre Haut weiß, ihre Haare klebten auf den Planken. Greven stand tropfend daneben, die Hände halb ausgestreckt, zu allem bereit, und doch hilflos, so hilflos wie schon lange nicht mehr.
Im Hafen hatte alles noch wie ein Ausflug ausgesehen, wie ein Inseltörn, wie ein raffinierter Schachzug, mit dem kein Gegner rechnen konnte. Vergeblich versuchte er, den Moment seiner Entscheidung noch einmal nachzuvollziehen, seine Motive einzuholen, sein Vorgehen an Bord der Tjalk zu verstehen. Was hatte er in der Hand gehabt? Eine Konstruktion, zusammengesetzt aus ein paar Aussagen und einer Todesanzeige. Mehr als ein paar Fragen waren da nicht drin gewesen. Dass er einen Volltreffer gelandet hatte, war erst klar geworden, als ihm Suhrmann den Tritt verpasste. Genauso gut hätte ihm die Frau die entlastenden Unterlagen unter die Nase halten und spottend mit Aline nach Delfzijl segeln können. Alles eine Frage der Gabelung des berühmten Entscheidungsbaums, eine Frage von Sekunden, in denen sich die Welt änderte und man sich plötzlich auf einem anderen Ast wiederfand. Ein Ast, den man vorher gar nicht bemerkt hatte, und auf dem sich auch Aline befand.
Mona begann zu weinen. Greven wagte kaum, auf die Planken zu sehen, doch als er langsam ankam, sah er, warum sie weinte. Alines Körper bäumte sich auf, sie würgte etwas Wasser aus sich heraus, keine Teetasse voll, und begann zu husten, als hätte sie eine Gräte verschluckt. Mona zog sie an sich und umarmte sie. Greven holte tief Luft und verscheuchte wieder einmal Geister.
»Kommst du klar?«
Mona nickte. Zähneklappernd ging er zum Ruderhaus.
»Ist schon unterwegs«, sagte Gosselar.
Greven sah ihn fragend an.
»Der Seenotrettungskreuzer. Mehr konnte ich nicht tun. Ich musste doch gleich wieder zurück ans Ruder. Du siehst ja, was hier los ist. Die reinste Autobahn. Dabei nennt sich das Nationalpark. Ach ja, deine Kollegen habe ich auch schon angefunkt. Die hätten das sowieso erfahren. Vom Rettungskreuzer.«
»Danke. Hast du trockene Klamotten an Bord?«
»Leider nicht. Ich war beim Klar-Schiff-Machen, wenn du dich erinnerst. Steht alles in zwei Kisten im Hafen. Nur eine Decke liegt noch unten.«
»Kannst du die Tjalk einholen?«
»Das ist nicht das Problem. Das kommt erst, wenn wir sie haben.«
»Das ist mein Problem. Ich kann sie nicht fahren lassen. Das weißt du.«
»Überleg dir das noch mal. Sie kann nicht entkommen«, sagte Gosselar und drehte kräftig am Steuerrad. »Überlass das deinen Kollegen vom Wasser.«
Ohne zu antworten ging Greven unter Deck und fand nach kurzer Suche die Decke. Auch eine Matratze und ein paar Sitzkissen lagen noch in der Koje. Mit wenigen Handgriffen bereitete er ein Lager vor. Dann lief er wieder hoch.
»Wie geht es ihr?«
»Ich glaube, ganz gut«, antwortete Mona.
Aline nickte. Ihre Haut war nicht mehr ganz so weiß. Aber sie zitterte noch mehr als er.
»Komm, wir bringen sie unter Deck. Mehr als eine Decke ist nicht an Bord. Es muss reichen, bis der Seenotretter kommt.«
Sie nahmen Aline in die Mitte und brachten sie nach unten. Während Mona ihr die nassen Sachen auszog, machte sich Greven auf die Suche, denn auch er musste seine Kleider loswerden. In der kleinen Kombüse trieb er noch ein paar Handtücher auf, die er sich mit seinem Gürtel um die Hüften schnallte. An einem Haken hingen Ölzeug und eine fleckige blaue Arbeitsjacke, die nach altem Schweiß stank. Doch die Kälte ließ ihm keine andere Wahl. Nach einem Schluck von dem billigen Korn kehrte die Wärme langsam zurück. Mona hatte Aline inzwischen in eine Roulade verwandelt; nur ihr Kopf schaute noch aus der grauen Decke heraus. Sie sah Greven verständnislos an und stammelte ein paar leise, schwer verständliche Worte.
»Später«, beruhigte sie Greven. »Lass dich erst mal verarzten. Kann nicht mehr lange dauern. Ich sehe inzwischen mal nach, was Frau Suhrmann macht.«
Greven lief zum Ruderhaus, schnappte sich das Fernglas und suchte die Tjalk ab.
»Geiles Outfit«, meinte der Fischer. »Kannst gleich bei mir anfangen.«
»Danke für das Angebot, aber fang du deine Fische, ich fang meine.«
Frau Suhrmann saß am Ruder. Da sie vor dem Wind segelte, brauchte sie sich um weiter nichts zu kümmern.
»Die hat ganz schön Fahrt drauf«, sagte der Fischer.
»Ach was«, kommentierte Greven.
Als sie sich auf zwei Seemeilen genähert hatten, drehte sich
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