Knochenfinder
Ihnen einfällt, auch wenn es Ihnen unwichtig vorkommt.« Winterberg breitete einladend die Arme aus: eine Geste, mit der er die Staudts zu einem offenen Gespräch auffordern wollte.
Die beiden sahen einander an. Offenbar verständigten sie sich schweigend, dass Michael Staudt reden sollte, denn er räusperte sich und öffnete leicht den Mund. Doch dann sah er abwechselnd auf seine Hände und zu seiner Frau. Es fiel ihm offensichtlich schwer, einen Anfang zu finden.
Natascha versuchte ihm zu helfen. »Ist Ihnen am Freitagmorgen, vor der Schule, irgendetwas an René aufgefallen? War er anders als sonst? War er vielleicht angespannt oder ungewohnt bedrückt? Oder, im Gegenteil, besonders fröhlich? Hat er sich auf das Wochenende gefreut?«
Die beiden sahen einander wieder an, bis Staudt endlich zu sprechen begann. »Er war eigentlich genau wie immer. Ich habe jedenfalls nichts Besonderes bemerkt.« Er wandte sich seiner Frau zu. »Du etwa, Karin?«
Sie schüttelte hastig den Kopf und schaute zu Boden. »Nichts. Alles war genau wie immer. Es war ein ganz normaler Freitag.«
»Tja, ich bin dann ins Büro gefahren«, fuhr er fort. »Meine Frau hat hier zu Hause ihre Arbeit gemacht und ist später einkaufen gewesen. Danach hat sie sich hingelegt und bis abends geschlafen.« Er warf seiner Frau einen bedeutungsvollen Blick zu. »Karin hat nämlich oft Migräne. Und als ich dann von der Arbeit kam, war es schon so spät, dass ich nicht mehr in Renés Zimmer geschaut habe. Ich war der festen Überzeugung, er würde bereits schlafen, und wollte ihn nicht stören. Ich habe mich auch hingelegt und tief geschlafen. Am nächsten Morgen sind Karin und ich dann erst ziemlich spät aufgewacht.« Seine Frau nickte zustimmend.
Lähmende Stille erfasste die Eltern, breitete sich im Raum aus und wurde für Nataschas vernetzte Wahrnehmung fast greifbar. Sie erlebte diese Stille wie einen schmutzig gelben Film, der sich auf alles in diesem Raum legte. Er vermischte sich mit dem Braunton ungelüfteter Zimmer zu einer Melange der Verzweiflung. Selten waren für Natascha die Empfindungen anderer Menschen so präsent wie jetzt, und Mitgefühl kam in ihr auf. Doch sie durfte sich davon nicht beeinflussen lassen, sondern musste aufmerksam bleiben und Hinweise darauf finden, was mit René geschehen war.
Winterberg durchbrach schließlich die Stille. »Ihre erste Meldung ging bei uns am Sonntag gegen elf Uhr ein. Was ist nach dem Samstagmorgen passiert?«
»Samstags geht René um die Mittagszeit zum Fußball«, antwortete Staudt. »Natürlich bin ich davon ausgegangen, dass er das auch am vergangenen Samstag getan hat. Außerdem waren seine Schuhe und seine Sporttasche verschwunden; das haben wir gleich gesehen. Nicht wahr, Karin?« Er sah seine Frau an, die bekräftigend nickte, bevor er fortfuhr: »Als René dann abends nicht zum Essen kam, hab ich mir Sorgen gemacht. Also habe ich bei seinem Trainer angerufen. Und der hat mir erzählt, dass René gar nicht beim Fußball war, und das auch nicht zum ersten Mal. Auch seine Kumpels haben ihn nicht gesehen.«
»Was ist eigentlich mit seinem Handy?«, fragte Winterberg. »Hat er es mitgenommen? Haben Sie versucht, ihn darauf zu erreichen?«
»Wir haben es ständig versucht. Aber er ist nie drangegangen. Und inzwischen ist das Handy aus. Wenn wir jetzt anrufen, erhalten wir immer nur die Nachricht, dass der Empfänger nicht erreichbar ist. Nicht einmal die Mailbox meldet sich. Aber die ist wahrscheinlich ohnehin schon voll, so oft, wie wir da draufgesprochen haben.«
Staudt hielt die Hand vor sich, als läge ein imaginäres Telefon in ihr. Eine unbewusste Geste, die anzeigte, wie stark er sich an einzelne Szenen erinnerte.
Das sollten wir nutzen, dachte sich Natascha, und fragte: »Seit wann genau ist das Handy aus? Können Sie sich daran erinnern?«
Staudts Blick huschte kurz zu seiner Frau, dann sah er auf seine Hand, die er noch immer so hielt, als wäre in ihr ein Telefon. »Seit Samstagabend. So ungefähr.«
Er wich Nataschas Blick aus und schaute zur Seite, als wollte er etwas vor ihr verheimlichen. Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte Natascha. Sie musste herausfinden, was dahintersteckte.
»Ich finde es ein wenig seltsam, dass René freitags nicht von der Schule nach Hause kommt und Sie das erst am Samstagabend bemerken«, erklärte sie rundheraus und starrte Staudt an. »Spricht er nicht mit Ihnen, wenn er nach Hause kommt? Isst er nichts, geht er nicht ins Badezimmer, hört
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