Knochenhaus (German Edition)
ja, ein-, zweimal vielleicht.»
Leah kriecht unter den Schreibtisch, um die Kabel zu prüfen. «Scheint alles in Ordnung zu sein», sagt sie. «Drücken Sie mal eine Taste.»
«Welche denn?»
«Das dürfen Sie sich aussuchen.»
Nelson haut auf die Leertaste, und der Computer erwacht wie von Zauberhand zum Leben und äußert ein süffisantes «Guten Tag, DCI Nelson».
«Ach, leck mich doch», brummt Nelson und greift nach der Maus.
«Wie bitte?» Leah zieht die Augenbrauen hoch.
«Sie doch nicht», sagt Nelson. «Das Ding hier. Auf Smalltalk im Büro kann ich verzichten.»
«Wahrscheinlich ist er einfach darauf programmiert, Sie zu begrüßen», erwidert Leah gelassen. «Meiner spielt mir immer ein Liedchen vor.»
«Mir kommen gleich die Tränen.»
«Chief Superintendent Whitcliffe sagt, wir müssen uns alle an die neuen Geräte gewöhnen. Heute um vier findet eine Einführung statt.»
«Da kann ich nicht», brummt Nelson, ohne aufzusehen. «Ich bin bei einer Fallbesprechung draußen in Swaffham.»
«Ist da nicht auch diese römische Ausgrabungsstätte?», fragt Leah. «Das kam neulich in Time Team .»
Weil sie gerade ein paar Aktenordner im Regal zurechtrückt, dreht sie Nelson den Rücken zu und verpasst das plötzliche Interesse in seiner Miene.
«Eine Ausgrabungsstätte? Archäologisch, meinen Sie?»
«Genau.» Leah dreht sich wieder um. «Anscheinend haben sie da draußen eine komplette römische Siedlung gefunden.»
Nelson beugt sich angelegentlich über seinen Computer. «Da wimmelt es jetzt also von Archäologen, was?»
«Ja. Mein Onkel hat das Pub dort, das Phoenix, und er sagt, die sitzen jeden Abend bei ihm rum. Er musste schon seine Cider-Vorräte aufstocken.»
«Na, das passt ja», knurrt Nelson. Er kann sich lebhaft vorstellen, dass Archäologen natürlich nur Cider trinken, obwohl doch alle Welt weiß, dass echte Kerle ein ordentliches Bitter brauchen. Archäolo ginnen hingegen … da sieht die Sache schon wieder anders aus.
«Vielleicht schaue ich auf dem Rückweg kurz dort vorbei», sagt er.
«Interessieren Sie sich etwa für Geschichte?», fragt Leah fassungslos.
«Ich? Klar doch. Faszinierende Sache. Ich verpasse keine Folge von Die Scharfschützen .»
«Dann sollten Sie sich mal für unser Pub-Quiz-Team aufstellen lassen.»
«Ich leide unter Lampenfieber», erwidert Nelson knapp und tippt dabei mit einem Finger sein Passwort ein: Nelson1. Er hat es gern eindeutig. «Sind Sie so nett, Kindchen, und bringen mir eine Tasse Kaffee, ja?»
Swaffham ist eines dieser hübschen Marktstädtchen, wie Nelson sie mehrmals täglich durchfährt, ohne groß darauf zu achten. Schon ein paar Kilometer weiter ist man mitten auf dem platten Land: Felder, auf denen das Gras hüfthoch steht, Wegweiser, die in zwei Richtungen gleichzeitig zeigen, kreuzende Kühe auf der Straße, die ein junger Mann mit tumbem Gesichtsausdruck auf einem Quadbike vor sich hertreibt. Innerhalb von Sekunden hat Nelson sich völlig verfranst. Er will schon aufgeben, als ihm plötzlich die Idee kommt, den tumben Jüngling nach dem Phoenix zu fragen. Wenn man in Norfolk nicht weiterweiß, erkundigt man sich einfach nach dem nächsten Pub. Wie sich herausstellt, ist das Phoenix ganz in der Nähe. Nelson wendet mitten auf der schlammigen Fahrbahn, biegt in eine Straße ein, die kaum mehr als eine Schotterpiste ist, und da ist es auch schon, ein kleines reetgedecktes Haus mit Blick auf einen steilen, grasbewachsenen Hang. Nelson stellt seinen Wagen auf dem Parkplatz ab, und als er auf der anderen Straßenseite, am Fuß des Hanges, den klapprigen roten Renault entdeckt, bekommt er Herzklopfen. Als freudige Erregung will er es nicht wahrhaben. Ich habe sie einfach eine ganze Zeit nicht gesehen, sagt er sich. Schön, mal wieder zu hören, wie’s ihr geht.
Er hat keine Vorstellung davon, wo die Ausgrabungsstätte ist oder wie sie aussehen könnte, denkt sich aber, dass er oben vom Hügel aus einen besseren Überblick haben wird. Es ist ein schöner Abend, lange Schatten fallen auf das Gras, die Luft ist mild. Doch Nelson achtet kaum auf seine Umgebung: Er denkt an eine trostlose Küste, an Leichen, die von der erbarmungslosen Flut ins Meer gespült werden, an die Umstände, unter denen er Ruth Galloway kennengelernt hat. Vergangenen Winter hat er sie als forensische Archäologin hinzugezogen, nachdem draußen am Salzmoor, einem gottverlassenen Flecken an der Küste im Norden Norfolks, menschliche Knochen aufgetaucht waren.
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