Knochenhaus (German Edition)
beherbergt eigentlich ein Museum. Früher war Nelson oft mit seinen Töchtern dort. Sie waren hin und weg von den Verliesen, und Laura hegte eine heimliche Schwäche für die Teekannensammlung. Jetzt ist er aber schon seit Jahren nicht mehr dort gewesen, und als er mit seiner Frau Michelle den kurvigen Pfad hinaufsteigt, der hell erleuchtet und mit Wappenbannern geschmückt ist, trägt er sich mit den schlimmsten Befürchtungen. Die sich gleich darauf bewahrheiten, als sie von Dienstmägden empfangen werden. Es stand zwar nichts von Kostümierung auf der Einladung, aber diese Damen stellen ganz eindeutig Mägde dar: Sie tragen weit ausgeschnittene, pseudomittelalterliche Kleider und Rüschenhauben auf dem Kopf. Glücklicherweise servieren sie Champagner, und Nelson schnappt sich das vollste Glas auf dem Tablett, was Michelle natürlich nicht entgeht.
«Du kannst den Hals wie immer nicht voll genug kriegen, was?», kommentiert sie und greift selbst nach einem Glas Orangensaft.
«Wenn ich diesen Abend überstehen soll, brauche ich Alkohol», erklärt Nelson, während sie auf die schwere hölzerne Pforte zugehen. «Du hast mir gar nicht erzählt, dass es ein Kostümfest ist.»
«Ist es auch nicht.» Michelle trägt ein silbernes Minikleid, das beim besten Willen nicht mittelalterlich aussieht. Im Grunde findet Nelson sogar, dass ihm ein bisschen mehr Stoff nicht geschadet hätte, eine Schleppe zum Beispiel oder eine Krinoline oder was Frauen damals sonst so trugen. Doch sie sieht umwerfend darin aus, das muss er zugeben.
Sie gelangen in einen runden Empfangssaal, wo noch mehr Champagner auf sie wartet, dazu ein Lautenspieler sowie, zu Nelsons größerem Entsetzen, ein Hofnarr. Nelson weicht einen Schritt zurück.
«Nun geh schon rein.» Michelle gibt ihm von hinten einen Schubs.
«Dadrin ist ein Mann in Strumpfhosen!»
«Na und? Der wird dir schon nichts tun.»
Nelson betritt zögernd den Saal, den Blick misstrauisch auf den Hofnarren gerichtet. Dadurch entgeht ihm eine weitere Gefahr, die von der anderen Seite auf ihn zusteuert.
«Ah, Harry! Und die bildschöne Mrs. Nelson.»
Whitcliffe, in eleganter Smokingjacke und offenem Hemd, was er anscheinend für irrsinnig trendig hält. Außerdem hat er einen weißen Schal um den Hals. Flachwichser.
«Guten Abend.»
Whitcliffe begrüßt Michelle mit einem Handkuss. Der Hofnarr nähert sich hoffnungsvoll und schüttelt seine Glöckchen.
«Sie haben mit keinem Wort erwähnt, dass hier so komisch angezogene Figuren rumlaufen», sagt Nelson. Wie immer, wenn er unter Stress steht, drängt sich sein nordenglischer Akzent in den Vordergrund.
«Das Motto lautet eben ‹Mittelalter›», erläutert Whitcliffe zuvorkommend. «Edward organisiert so etwas immer ganz hervorragend.»
«Edward?»
«Edward Spens», sagt Whitcliffe. «Ich habe Ihnen doch erzählt, dass der heutige Abend von Spens & Co ermöglicht wird.»
«Von dem Baulöwen, ja.»
«Bauunternehmer», lässt sich eine Stimme von hinten vernehmen.
Nelson dreht sich um und sieht einen gutaussehenden Mann seines Alters, in geradezu vorbildlicher Abendgarderobe. Er gibt sich nicht mit weißen Schals und offenem Hemdkragen ab, sondern trägt einen ganz traditionellen Smoking und ein weißes Hemd, das seine leicht gebräunte Haut und das dichte dunkle Haar gut zur Geltung bringt. Nelson findet ihn auf den ersten Blick unsympathisch.
Whitcliffe teilt dieses Gefühl offenbar nicht. «Edward! Darf ich vorstellen? Edward Spens, unser Gastgeber. Edward, das sind Detective Chief Inspector Harry Nelson und seine bezaubernde Gattin Michelle.»
Edward Spens mustert Michelle anerkennend. «Ich wusste gar nicht, dass Polizisten so schöne Frauen haben, Gerry.»
«Einen Vorteil muss der Job ja haben», erwidert Nelson gezwungen.
Whitcliffe, der selbst nicht verheiratet ist (ein Umstand, der immer wieder zu Spekulationen Anlass gibt), schweigt. Michelle, erfahren im Umgang mit männlicher Bewunderung, reagiert mit einem strahlenden und doch distanzierten Lächeln.
«Nelson», fährt Edward Spens fort. «Sind Sie nicht der Wachtmeister, der mit dieser Salzmoor-Sache zu tun hatte?»
«Ja.» Nelson spricht nur ungern über seine Arbeit und hat eine ausgeprägte Abneigung gegen das Wort «Wachtmeister».
«Schreckliche Geschichte.» Spens macht ein ernstes Gesicht.
«Ja.»
«Aber Gott sei Dank haben Sie ja alles aufgeklärt.» Spens klopft ihm herzhaft auf die Schulter.
Ruth Galloway sei Dank vor allem, denkt Nelson bei
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