Knochenhaus (German Edition)
sich. Doch Ruth hat darauf bestanden, so wenig wie möglich mit dem Fall in Verbindung gebracht zu werden.
Laut sagt er: «Solche Fälle gibt es zum Glück nicht allzu oft.»
«Darauf trinken wir!» Spens drückt ihm ein neues Glas Champagner in die Hand.
Niemand hat beobachtet, wie Ruth sich übergeben hat, und so schiebt sie nur mit dem Fuß etwas Erde über das Erbrochene und steigt wieder ins Auto, wo Bruce Springsteen gerade einer Frau mit dem abwegigen Namen Wendy erklärt, sie seien «born to run». Sie setzt den Wagen rückwärts vom Campingplatz und fährt weiter Richtung Heimat.
Sie bewohnt das mittlere von drei Häuschen am Rand des Salzmoors. Ein Nachbarhaus steht leer, das andere gehört einem Ehepaar, Wochenendurlaubern, die immer seltener kommen, seit die Kinder aus dem Haus sind. Ruth hat nichts gegen die Abgeschiedenheit. Im Gegenteil: Als sie jetzt aus dem Auto steigt und die endlose Weite des Moores in sich aufnimmt, die Sanddünen im Hintergrund und das ferne Murmeln des Meeres, verstärkt es ihre Freude nur noch, dass dieser Blick ihr ganz allein gehört. Lächelnd schließt sie die Haustür auf.
Flint, ihr roter Kater, hat bereits auf der Lauer gelegen und stürmt jetzt laut jammernd auf sie zu. Sein Fressnapf ist noch voll, doch anscheinend empfindet er es als Zumutung, das abgestandene Zeug fressen zu müssen. Er streicht Ruth so lange schnurrend um die Beine, bis sie ihm frisches Futter zurechtmacht, obwohl der Geruch die Übelkeit zurückbringt. Dann schnuppert er ausgiebig daran und verschwindet durch die Katzenklappe nach draußen.
Ruth setzt sich an den Tisch am Fenster, um ihren Anrufbeantworter abzuhören. Die erste Nachricht ist von ihrer Mutter, die wissen will, ob Ruth denn nun tatsächlich übers Wochenende komme. Aus irgendeinem Grund rechnet sie immer damit, dass sich die Pläne ihrer Tochter in letzter Sekunde ändern, obwohl Ruth eigentlich ausgesprochen pünktlich und zuverlässig ist. Die zweite Nachricht stammt von ihrer Freundin Shona, die irgendetwas von ihrem verheirateten Freund Phil zu berichten hat. Und die dritte ist von Max Grey. Na so was.
«Hallo, Ruth. Ich wollte nur sagen, wie sehr ich unser Gespräch genossen habe. Und ich habe noch mal über unsere Leiche nachgedacht. Falls der Kopf fehlt, könnte das doch auf einen Kopfkult hinweisen. Haben Sie von den Lankhills-Gräbern in Winchester gehört? Dort wurden auf einem römischen Friedhof sieben enthauptete Leichen gefunden, darunter auch die eines Kindes. Ich frage mich, ob wir hier wohl etwas Vergleichbares haben. Na, wie auch immer, ich hoffe, wir hören uns bald.»
Wie seltsam sich Archäologen manchmal ausdrücken, denkt Ruth. Unsere Leiche. Die Knochen, die unter den römischen Grundmauern aufgetaucht sind, haben sich in unsere Leiche verwandelt, die sie auf eine seltsame, surreale Weise mit Max Grey verbindet. Beide bringen sie diesem Skelett eine Art Besitzerstolz, vielleicht auch ein gewisses Mitgefühl entgegen. Aber ist das schon Grund genug, dass Max ihr auf den Anrufbeantworter spricht? Wollte er tatsächlich einen gemütlichen Plausch über geköpfte Leichen halten? Oder wollte er womöglich einfach nur mit ihr reden?
Ruth seufzt. Das ist ihr alles viel zu kompliziert. Außerdem hat sie andere Dinge im Kopf. Immerhin muss sie morgen nach London fahren und ihrer Mutter erzählen, dass sie schwanger ist.
«Zurzeit erschließen wir gerade drei zentrale Baugrundstücke im Herzen von Norwich. Die alte Gerberei, das Odeon-Kino und das verfallene Haus an der Woolmarket Street.»
«Woolmarket Street?», schaltet sich Whitcliffe ein. «War das nicht früher mal ein Kinderheim?»
«Soviel ich weiß, ja.» Edward Spens bestreicht ein Stück Brot mit Butter. «Sind Sie gebürtig aus Norwich, Gerry?»
Als Whitcliffe nickt, denkt Nelson, dass das einiges erklären dürfte. Er selbst stammt aus Blackpool und würde sofort dorthin zurückkehren, wenn Michelle und die Mädchen nicht wären. Michelle hat ihn überredet, die Stelle in Norfolk anzunehmen, was er ihr insgeheim immer noch übelnimmt. Seinen Töchtern gefällt Blackpool überhaupt nicht: Die reden da alle so komisch, und man isst schon um fünf zu Abend. Außerdem finden sie es viel zu kalt, auch wenn die Mädels dort tagein, tagaus im Minirock herumlaufen.
Das Fest ist in die Bankett-Phase eingetreten: Es gibt Schweinebraten, der sich als Spanferkel tarnt. Michelle hat ihre Portion bisher kaum angerührt. Sie ist vollauf damit beschäftigt,
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