Knochenpfade
entging ihr. Sie war eine Meisterin im Deuten von Zwischentönen. Die kleinste Schwäche, die Maggie zeigte, würde sie entdecken. Ein Berufsrisiko, wie Gwen es immer nannte. Und Maggie wusste nur allzu gut, was sie damit meinte.
Die beiden Frauen hatten sich kennengelernt, als Maggie in der forensischen Abteilung von Quantico, der FBI-Ausbildungsstätte, gearbeitet hatte, wo Gwen eine Privatpraxis in der Abteilung für Verhaltensforschung führte. Dr. Gwen Patterson, die siebzehn Jahre älter war als Maggie, hatte die Tendenz, ihr gegenüber mütterliche Instinkte zu entwickeln. Maggie konnte damit leben. Gwen war ihre einzige feste Freundin. Immer war sie es, die Maggie zur Seite stand. Gwen war es gewesen, die Maggie während ihrer langen, zermürbenden Scheidungsphase aufgerichtet hatte. Gwen hatte nachts an ihrem Krankenhausbett gewacht, nachdem ein Killer Maggie in eine Kühlbox eingeschlossen hatte. Und Gwen war es gewesen, die in Fort Detrick auf der anderen Seite der Glasscheibe ihrer Isolierzelle gesessen hatte, als Maggie mit dem Ebola-Virus infiziert worden war. Zuletzt hatte Gwen an Maggies Seite gestanden, als sie ihrem früheren Chef und Mentor auf dem Nationalfriedhof in Arlington das letzte Geleit gegeben hatte.
Trotzdem gab es Tage wie heute, an denen Maggie sich nicht mit ihrer eigenen Verletzlichkeit auseinandersetzen konnte. Und sie wollte auch nicht, dass ihre Freundin sich Sorgen um sie machte. Maggie wusste, dass sie nicht nur müde war, weil sie Probleme mit dem Einschlafen hatte. Es waren auch die Albträume, die sie nachts hochschrecken ließen. Die schrecklichen Bilder in ihrem Kopf. Ihr Bruder Patrick, der mit Handschellen an einen Bombenkoffer gefesselt war. Ihr ehemaliger Mentor und Vorgesetzter im Krankenhausbett, sein eingefallener Körper, all die Nadeln und Schläuche, die sie an ihn angeschlossen hatten. Sie selbst eingesperrt in einem eisigen Sarg. Eine Imbissbox auf dem Tresen einer Raststätte, aus der Blut sickerte. Lange Reihen von Einweckgläsern mit eingelegten menschlichen Körperteilen.
Das Problem war, dass es sich hier nicht um die Bilder eines kranken Hirns oder Fantastereien infolge von Übermüdung handelte. Nein, es waren reale Erinnerungen, kurze Einblendungen tatsächlicher Begebenheiten. Die Schubladen, die Maggie sich über die Jahre hinweg so sorgfältig in ihrem Kopf aufgebaut hatte – die Fächer, in denen sie diese fürchterlichen Bilder verwahrte –, begannen langsam undicht zu werden. Genauso wie Gwen es vorausgesagt hatte.
“Eines Tages”, hatte ihre weise Freundin sie immer gewarnt, “wirst du dich auseinandersetzen müssen mit den Dingen, die du gesehen und getan hast, die dir angetan wurden. Du kannst sie nicht für immer verdrängen.”
Beim Klingeln ihres Handys zuckten Maggie und Harvey gleichzeitig zusammen. Sie tätschelte ihm den Kopf, während sie an ihm vorbeilangte und nach dem Mobiltelefon griff. Es hätte sie nicht gewundert, jetzt Gwens Stimme zu hören.
“Maggie O’Dell.”
“Hallo!”
Dicht dran. Es war Gwens Freund, R.J. Tully, bis vor Kurzem Maggies Partner beim FBI. Das war gewesen, bevor sie den Rotstift ansetzten, um Kosten zu sparen. Nun arbeiteten sie beide ohne Partner und sehr selten mal am selben Fall. Jedenfalls hatte Tully heute beim Einsatz in der Lagerhalle zu der Gruppe gehört, die zur Absicherung gerufen worden war. Ein halbes Dutzend FBI-Agents, die beobachtet hatten, wie Kunze den Todesschuss abfeuerte.
“Ich dachte, ich höre mal, wie’s dir geht. Ist alles in Ordnung?”
“Alles okay.” Zu schnell. Sie biss sich auf die Unterlippe. Würde Tully jetzt darauf eingehen? Gwen hätte es getan. Bevor er die Gelegenheit hatte, etwas darauf zu erwidern, wechselte sie das Thema. “Ich wollte Emma gerade anrufen.”
“Emma?” Tully hörte sich an, als wäre ihm der Name seiner Tochter völlig fremd.
“Wegen Harvey. Ich muss morgen früh los. Sehr früh. Charlie Wurth hat einen Fall in Florida, den ich mir mal vornehmen soll. Ist Emma zu Hause?”
Zu langes Schweigen. Er hatte sie durchschaut. Schließlich war er auch ein Profiler. Aber würde er ihr das durchgehen lassen? Gwen wäre unerbittlich.
“Sie ist doch noch nicht an der Uni, oder?”, erkundigte sich Maggie, nur, um das Schweigen zu unterbrechen. Sie wusste, dass das Mädchen die Abreise ständig hinausschob.
“Nein. Sie wollte erst Ende nächster Woche fahren. Im Moment ist sie nicht hier, aber ich bin sicher, dass sie gern bei Harvey
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