KNOI (German Edition)
nicht. Niemand habe etwas gesehen, das hätten sie überprüft. Sie seien die ganze Zeit über hier gesessen und hätten sich um ihn gekümmert. So lange hatten sie den Sohn schon seit Jahren nicht mehr ansehen dürfen. Das hatten sie zwar nicht gesagt, aber bestimmt gedacht. Und jetzt, da Jakob wieder wach war, nistete sich eine Art Trauer in ihren Blick. Sie hielt ihre Hand und seufzte, so wie sie sich durch ihr ganzes Leben geseufzt hatte.
In der Nacht schlich er in das Zimmer von Marie. Er hatte sie ausfindig gemacht. Sie sagten, Marie heiße Jennifer, daher gebe es keine Marie. Im Pass stehe Jennifer Kerbler.
- Vielleicht ein Nom de guerre, sagte der Arzt.
Sein Händedruck war weich und warm.
- Sie ist Schauspielerin, sagte Jakob.
- Ihre Mutter heißt Marie, sagte die Schwester.
Sie sei verständigt worden. Nein, sie könne nicht anreisen. Krankheitsbedingt. Wie krank müsse man sein, dass man seiner Tochter nicht beim Sterben zusehen wolle, fragte Jakob. Der Arzt schüttelte den Kopf und sagte, Marie müsse nicht sterben, ihre Verletzungen seien erheblich, und man halte sie bestimmt noch ein paar Tage in künstlichem Koma, doch sterben müsse sie nicht. Jakob seufzte, weil er ihren Nom de guerre gebrauchte.
- Sie wird nicht mehr gehen können, sagte der Arzt.
Nicht mehr an den Strand gehen können, dachte Jakob. Dann ging der Arzt, und die Schwester stellte Jakob einen Sessel ans Bett. Ihr Atem stieß ihn ab. Es war das Geräusch der Maschine. Das mechanische Hochziehen von Luft. Die schlagenden Wellen. Ihr Stöhnen beim Sex. Man hielt sie am Leben, gegen seinen Willen.
DREI
Jakobs Eltern? Wenig hatten sie gesagt. Die Köpfe hatten sie geschüttelt. So wie sie ihr Leben lang die Köpfe geschüttelt hatten. Zuerst über die eigene Existenz, dann über die der anderen, dann darüber, dass sie jemanden gefunden hatten, mit dem man über all das die Köpfe schütteln konnte, im Besonderen über die Existenz eines gemeinsamen Kindes, dann über das Zustandebringen eines zweiten Kindes, über die daraus resultierende Koexistenz und schließlich darüber, nach der geglückten Aufzucht der beiden Kinder noch immer existent zu sein. Vom ersten bis zum letzten Tag ein schwindelerregendes und alles und jeden fortbeutelndes Kopfschütteln. Der Rest, der dem Abschütteln trotzte, wurde widerwillig und resignativ in Worte gefasst.
- Im Fernsehen ein Schirennen.
- Ostern ist heuer früh.
- Ein Kind ist eben ein Kind.
- Aber Griechenland ist weit.
- Letztes Jahr war der Karpfen besser.
Und als Jakob selbst einmal den Kopf schüttelte und sagte: Sechs Euro für eine Suppe, da wusste er, dieses Kopfschütteln war auch bei ihm angekommen.
Es war augenfällig geworden. Jakob und Rita waren auf dem besten Wege, ebenfalls kopfschüttelnd durchs Leben zu gehen. Auch wenn sich ihr Kopfschütteln voneinander unterschied. Rita ging es immer um das bessere Leben. Um ihr besseres Leben, das eben besser war als das der anderen. Bei Jakob hingegen war es Imitation, und er versuchte, aus diesem Gengehege auszubrechen. Er versuchte es einzustellen. Raus. In die Winde. Auf die Inseln. Auf die Motorräder. Blicke verschwenden. Köpfe in den Fahrtwind legen. Kleider auf der Haut flattern lassen. Die alten Geschichten am Straßenrand liegenlassen. Weiterfahren. In die Nacht, wo die Havarie noch liegen würde, wenn Marie wieder aufwachte. Es müssen Tage, vielleicht sogar Wochen gewesen sein, die er neben ihr gesessen war. In diesem Krankenhaus, in dem sich die Insel genauso klamm anfühlte wie das Festland, da hatte er tage-, vielleicht sogar wochenlang nur seine eigene Stimme gehört. Und das mechanische Atmen von Marie. Im Krankenhaus schüttelte man die Köpfe, weil er blieb, obwohl man ihn entlassen hatte.
- Er kennt sie doch überhaupt nicht.
- Wenn er jetzt bleibt, wird es nie wieder leicht.
- Wenn er jetzt geht, wird es für immer schwer.
- Er kann nicht gehen. Nicht solange sie schläft.
- Er sollte gehen. Solange sie schläft.
- Er muss warten, bis sie ihn wegschickt.
- Es war nicht seine Schuld.
- Sie wird ihn büßen lassen.
- Sie wird uns alle büßen lassen.
- Jakob, komm nachhause, deinem Vater geht es sehr schlecht.
- Jakob, die eigene Familie wird dir doch wichtiger sein als diese Schauspielerin.
- Guten Abend, mein Name ist Kerbler. Können Sie mir sagen, wie es meiner Tochter geht?
Der Anruf aus dem Spital kam in der Nacht. Sie hatte ihn seit Jahren erwartet.
- Wenn man Kinder hat, wird jeder Anruf
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