KNOI (German Edition)
Rohrbach schien es überhaupt kein Klima zu geben. Und mit Ausnahme von Marie schlief man dort in den Nächten. Tagsüber starrte man den anderen kopfschüttelnd, stirnrunzelnd und seufzend hinterher. In Rohrbach ging man nicht auf die Straße, man versteckte sich hinter Wänden aus Thujen, die stets höher als auf Augenhöhe standen. Man lebte nach hinten und nicht nach vorn. Man warnte vor dem Wetter, das bestimmt irgendwann auch Rohrbach heimsuchen würde. Sonst war man erleichtert, dass es hier keine giftigen Tiere oder Pflanzen gab. Wobei man übersah, dass ausgerechnet Thujen giftig waren.
Was er schon groß von Rohrbach wisse, fauchte Jennifer, ein einziges Mal sei Jakob dort gewesen. Und selbst den weltgereisten Konrad habe es nie nach Rohrbach verschlagen, keine Dienstreise der Welt führe jemals dorthin, nicht einmal eine endlose wie die von Konrad, die ohnehin nichts als eine feige Art von Selbstmord sei, wesentlich feiger als der Sprung ihres Vaters, sagte Jennifer, die Konrad verachtete, ohne ihn jemals kennengelernt zu haben. Aber Frau und Kinder für eine nicht enden wollende Dienstreise sitzen zu lassen, das sei ein Selbstmord, dem die letzte Konsequenz fehle. Worauf Jakob sagte, jede Dienstreise habe ein Ende, selbst die von Konrad, der seit sechs Jahren nicht zuhause gewesen war, deshalb von Sitzenlassen zu sprechen, das halte er für übertrieben, worauf Jennifer sagte, wenn jemand sechs Jahre auf jemanden warte, dann sitze er, weil er gar nicht mehr die Kraft habe zu stehen. Warum sich Konrads Frau nicht längst einen anderen gesucht habe, dass sie stattdessen im Sitzen auf diesen Satelliten warte, das sei das Gegenteil von Weiblichkeit, auf diese Entfernung wirke die Anziehungskraft nicht mehr. Es gebe eben einen Unterschied zwischen einer Sitzengelassenen und einer Sitzenbleiberin, die eine sei wie die Sonne und die andere wie ein bewegungsloser Planet ohne Leben. Wobei Rohrbach das Zentrum dieses Planeten sei, sagte Jakob, der ungern über seinen Bruder sprach.
Rohrbach, sagte Jennifer, das sei eine geschlossene Anstalt, aus der es kein Entkommen gebe, nur ihre Mutter habe ein Schlupfloch gefunden, unterbrach sie Jakob, indem sie schlief, wenn sich die Rohrbacher gegenseitig an die Türen klopften, und wachte, wenn Rohrbach in seinem komatösen Schlaf versank. Das Geisterdasein sei die einzige Möglichkeit, diesem Rohrbach zu entgehen, worauf Jennifer sagte, dass es sich um eine Krankheit handle, eine Krankheit, die es nicht gebe, das wisse sie genau. Jeder Arzt, selbst der Rohrbacher Gemeindearzt, würde ihr bestätigen, dass die so genannte Lichtallergie nicht existiere. Das gebe ihm aber noch lange kein Recht, über ihre Mutter zu urteilen, sagte Jennifer, schließlich habe er ohnehin nichts mit ihr zu tun. Die Einzige, die ständig nach Rohrbach pilgere, das sei sie, Jennifer, schließlich sei es auch ihre Mutter, sagte Jakob, der darauf wartete, dass Jennifer jetzt wie üblich aufrechnete, wie oft sie im Vergleich das Kopfschütteln seiner Eltern ertragen müsse. Aber Jennifer sagte nichts. Stattdessen dachte sie an das letzte Gespräch mit ihrer Mutter, die für Jennifers Existenz von jeher blind gewesen war, aber ein Gespür dafür hatte, wenn es etwas an der Tochter auszusetzen gab. Ihr ganzer mütterlicher Instinkt war auf dieses Gespür ausgerichtet. Natürlich hatte sie die Nachricht gelesen. Sie hatte es gar nicht bestritten. Schließlich sei sie ihre Mutter.
- Wenn du mehr von dir erzählen würdest, dann hätte ich keinen Grund dazu.
Das hatte sie gesagt. Schließlich sei Jennifer ihr eigen Fleisch und Blut. Sie betrachtete ihre Kinder nicht nur als ihr Eigentum, sondern als ein Organ, das zu ihrem Körper gehörte. Dieser blinde Anspruch hatte sich verstärkt, nachdem sie dem Vater ihre Niere gespendet hatte. Ein bedingungsloser Liebesbeweis sei das gewesen. Nicht einmal einen Abschiedsbrief habe er ihr geschrieben. Unverantwortlich sei es, so mit den Organen anderer umzugehen. Diese Frau, diese Hundsdorfer Witwe, habe ihn gemästet. Seine Gesundheit habe sie ruiniert. Nicht wegen ihr habe er sich umgebracht, an sie und ihre Niere habe er dabei als Letztes gedacht.
Wer also dieser Mann sei, fragte sie. Was sie das angehe, antwortete Jennifer. Schließlich sei sie ihre Tochter, nicht ihre beste Freundin.
- Glaubst du, ich verstehe nicht, was ich da lese?
Marie hielt ihr das Telefon entgegen.
- Darum geht es nicht.
- Doch, genau darum geht es.
- Dieser Mann ist
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