KNOI (German Edition)
dafür, dass es dem Jungen an nichts fehlt. Nicht nur, indem sie Ritas Frisur und Kleidung nachahmt. Vom Glück der anderen versteht sie etwas. Gelernt ist gelernt. Lutz gibt ihr den Morgenkuss, den sie verlangt, den sie braucht, um sicher in den Tag zu gehen, und plötzlich kommt Max ins Zimmer gelaufen, springt auf das Bett und schreit: Noch ein Kuss, noch ein Kuss! Lutz steht da, als wäre er im Aufzug steckengeblieben. Renate muss ihn erst wieder in die Gegenwart zurücklöffeln, und Lutz stammelt, dass er Max doch eben zur Schule gebracht habe. Renate setzt die Perücke auf und sagt, dass sich Glück immer wie ein Déjà-vu anfühle, und Max ruft aus dem Nebenzimmer, dass die Buntspechte geschlüpft seien, und dann wachte Lutz auf, stürzte zum Fenster, aber die Eier lagen noch im Nest. Beide Spechte waren ausgeflogen. Nein. Als Lutz auftauchte, setzte das Männchen zum Sturzflug an, um die Gestalt hinter dem Gitter zu vertreiben. Der Buntspecht fragte sich, ob sie schon geschlüpft waren. Schon vor Monaten, vielleicht sogar Jahren, hatte sich das Menschenpaar hinter dem Gitter eingenistet. Er konnte aber im Anflug nichts erkennen. Als das Gesicht von Lutz wieder verschwand, setzte das Männchen seine Futtersuche fort.
Lutz bewegte sich leise, denn Mario schlief noch. Mit der Zeit bekam man Respekt vor dem Schlaf des anderen. Schließlich war der Schlaf die einzige Phase, in der man nicht in dieser Zelle saß. Und Mario schlief viel. Mehr als Lutz. Wenn er sich für zwei Zigarettenlängen schlafend stellte, wachte er oft bis zum nächsten Tag nicht mehr auf. Mario war wirklich mit einem gesunden Schlaf gesegnet. Das machte die Zeit, er saß schon seit sechs Jahren. Und hatte noch weitere fünf wegzuschlafen. Bei Lutz waren es noch sieben Monate bis zur Halbzeit. Mario sagte, in der ersten Hälfte denke man darüber nach, was war, und in der zweiten, was sein wird.
Zuerst hatten sie Jennifers pinken Rucksack im Stundenhotel gefunden. Damit hatten sie aber nichts in der Hand gehabt. Dass er ein Verhältnis mit Jennifer hatte, war allgemein bekannt. Und warum der Herr Kommissar plötzlich so emsig ermittelte, hatte sich im Nachhinein eindrucksvoll aufgeklärt. Angeblich wohnte er schon bei Rita. Oder sie bei ihm. Rita wohnte nie bei sich selbst, immer bei jemand anderem. Kein einziges Mal hatte sie ihn besucht. Lutz glaubte nicht, was sie in dem Brief geschrieben hatte. Jedes Kind wollte seinen Vater sehen. Egal, was er verbrochen hatte. Aber wahrscheinlich spielte sich der Kommissar inzwischen als Vater auf. Ein Kind in diesem Alter vergaß irgendwann, wer sein Vater war. Darauf bauten sie. Ganz klar. Aber er würde nicht ewig in dieser Zelle sitzen. Und ab der Hälfte hatte er genügend Zeit, darüber nachzudenken, was er alles mit dem alten Mann unternehmen würde. Die verlorene Zeit würde er wettmachen. In einem Aufwasch. Anwesend sein. Nicht davonlaufen. Er musste keine Rechenschaft ablegen. Vor niemandem. Dafür würde er drei Jahre im Gefängnis gesessen haben. Damit wäre die Sache erledigt. Für ihn. Für Rita. Für Jakob. Auch für Jennifer. Wenn dieser verdammte Köter ihre Leiche nicht aufgespürt hätte, dann läge er nicht hier und müsste Mario nicht dafür bezahlen, sich schlafend zu stellen. Ein Wunder, dass man sie nicht früher gefunden hatte. Schließlich ging der alte Mann immer die gleiche Runde. So gebellt habe der Hund seit dem Tod seiner Frau nicht mehr, hatte er im Zeugenstand ausgesagt. Das sei ihm gleich komisch vorgekommen. Wie wild der Hund zu graben begonnen habe. Und als er erkannte, dass es keine zähe Wurzel war, an der er kaute, rief der alte Mann sofort die Polizei. Kein schöner Anblick sei es gewesen, als man die Leiche geborgen habe. Den Namen des Hundes hatte man nicht zu den Akten genommen. Klassischer Formalfehler! Ein fähiger Anwalt hätte einen Freispruch erstritten. Aber diese Lusche wäre sogar bei der Ärztekammer rausgeflogen. Mit dem Leichnam waren die Dinge natürlich ins Rollen gekommen. Sogar die Schaufel von Max führten sie als Beweismittel an. Ob er sie je zurückbekommen hatte? Rita hatte keinen einzigen seiner Briefe beantwortet. Nur Renate hatte durchgehalten. Zumindest eine Zeitlang. Beim Verhör war sie umgefallen. Gut, das Alibi war natürlich obsolet geworden. Und beim zweiten Besuch hatte sie ihm eröffnet, dass ihr Ex-Mann wieder aufgetaucht war. Sie sehe ihn jetzt nicht mehr als Vaterfigur. Nichts sei davon übrig. In kleinen Bissen habe sie den
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