KNOI (German Edition)
Vater verarbeitet und hinuntergewürgt. Völlig unerwartet habe sie sich daher in ihren Ex-Mann verliebt. Sie habe gar nicht gewusst, dass sich dahinter ein ganz anderer Mann verschanze. Auch Lutz hatte bis zu diesem Moment nichts von dessen Existenz gewusst. Von wegen auserzählt. Sogar die Doktorin stellte sich am Ende als Hochstaplerin heraus. Sie solle nicht glauben, dass sie nach seiner Entlassung anzutanzen brauche, hatte er gesagt. Da trenne sich die Spreu vom Weizen. So gesehen habe die Zeit im Gefängnis auch ihre positiven Seiten. Seit Monaten schrieb er an einem Brief an Jakob. Nicht, um sich zu rechtfertigen. Nicht, um sich zu erklären. Nicht, um sich zu entschuldigen. Und schon gar nicht, um die Dinge zu beschönigen. Lutz wusste nicht, warum er diesen Brief zu schreiben begonnen hatte. Vielleicht durfte man solche Vorkommnisse nicht unbesprochen lassen. Wahrscheinlich musste man sie unbesprochen lassen. Sie würden einander bestimmt eines Tages auf der Straße begegnen. Aber darüber würde er ab der Hälfte nachdenken. Jetzt ging es um die Dinge, die waren. Hier hatte niemand Zugriff auf seine Gedanken. Eine Insel ohne Anlegesteg.
Mario wälzte sich herum. Er stieß wie immer ein lautes Räuspern aus und spuckte auf den Boden. Seine ganze Verachtung gegenüber der Welt, gegenüber sich selbst schnalzte er auf den Boden. Lutz schloss die Augen und stellte sich schlafend. Mario fluchte flüsternd vor sich hin. Gestern Abend hatten sie sich darauf geeinigt, dass es keinen empathischen Gott gab. Im Gefängnis einigte man sich schnell auf solche Dinge. Dieses Fluchen war unerträglich. Als ob sich die Tatsachen damit verscheuchen ließen. Lutz betrat den Wald. Der weiche Nadelboden. Das Moos. Jennifer, bis zum Becken im Boden versunken, hatte das Kleid aus Laub angezogen. Sie winkte ihn zu sich. Stumm. Aber das Fluchen war nicht wegzukriegen. Mario spuckte noch einmal aus. Dann schrie er ein lautes Aufstehen in den Raum. Wozu? Um noch mehr Insassen gesunde Zähne aufzubohren? Oder gar zu reißen. Er hatte nachgezählt. Zweihundertdreiundvierzig Plomben in acht Monaten. Das hätte er in der Ordination nie hingekriegt. Aber im Gefängnis gab es keine Ärztekammer. Und jeder war dankbar für jede Minute, die er nicht in der Zelle verbringen musste. Ein Geschäft. Für den Direktor. Für die Insassen. Für Lutz. Immerhin gelangte er so an Lidocain. Und das brauchte er. Denn selbst zu Mario fehlte inzwischen Zazuuuz. Aufstehen, befahl dieser. Lutz hatte gelernt zu gehorchen. Er setzte sich ruckartig auf. Mario winkte ihn zu sich. Lutz sprang vom Bett, und Mario deutete auf das Nest mit den Buntspechten. Sie sind geschlüpft, sagte er und versuchte ein kindliches Lachen in sein Gesicht zu zaubern. Bei einem wie ihm sah das eher nach unberechenbarem Wahnsinn aus. Mario zog Lutz an sich.
- Schau. Alle fünf haben überlebt.
Lutz stand hinter Mario. Sie schauten aus ihrer Zelle, und das Männchen setzte erneut zum Sturzflug an. Mario nahm die Hand von Lutz. Er hielt sie, und es fühlte sich kurz so an, als wären sie nur im Aufzug steckengeblieben. Draußen begann es zu schneien. Der Schnee breitete eine stumpfe Stille über den Innenhof. Unbemerkt schloss Lutz seine Augen. Letztendlich war es egal, wen man liebte.
© 2013 Jung und Jung, Salzburg und Wien
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Bildes von Deborah Sengl, www.deborahsengl.com
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ISBN E-Book 978-3-99027-107-0
ISBN print 978-3-99027-045-5
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