Knuddelmuddel
wohne seit über drei Jahren in dieser Stadt, aber da sind ganz viele Details, die mir nie aufgefallen sind. Vielleicht braucht man den Blick des Neuen, um das zu sehen. Vielleicht, wenn man täglich dran vorbeigeht, sieht man es nicht. So, wie man ja auch Flugzeuglärm nicht mehr wahrnimmt, wenn man unter einer Flugschneise wohnt. Oder das Rauschen eines Wasserfalls nicht mehr hört, wenn man in der Nähe wohnt.
Eine blaue Tür mit Muster aus Holz, eine Tür, der man ansieht, dass die Farbe dick aufgetragen ist, man ahnt, wie oft die Tür gestrichen worden ist
Die Wedel einer grünen Palme vor einem blaugekachelten Haus
Kacheln einer Hauswand, alle Kacheln sind alt, aber eine Stelle ist mit neuen Kachel geflickt, in einer völlig unpassenden Farbe
Ein Ladenschild in Schwarz-Weiß, ein Motiv wie ein Filmplakat
Die Dachterrasse der Cinemateque
Lissabonner Details, die Toms Liebe zu der Stadt zeigen. Vielleicht würdige ich die Stadt, in der ich lebe, nicht genug? Wann war ich zum letzten Mal in der Cinemateque? Das war noch mit dem João. Wir haben einen uralten Film gesehen. Schloß Vogelöd. Das muss ein oder zwei Jahre her sein. Mindestens. Dabei ist die Cinemateque nicht nur ein besonders schöner Platz, sie zeigen auch wirklich besondere Filme. So geht das nicht. Ich sollte mir eine Liste machen, mit allem, was ich in diesem Winter in Lissabon entdecken oder wieder entdecken will. Und ich sollte mir eine Liste machen, mit allem, was ich vergessen will. Ich sollte anfangen, die drei Schwerter aus meinem Herzen zu ziehen. Ich werde eine Liste machen, mit allem, was mir zeigt, das Claudio und ich nicht zusammenpassen.
Und ich sollte es nicht auf die lange Bank schieben. Ich sollte es gleich machen.
Liste für Lissabon:
- Die Cinemateque aufsuchen, Programm googeln, Film auswählen und mindestens einmal im Monat dort einen Film sehen
- Das Chapito. Einmal im Monat im Chapito essen gehen, entweder alleine oder mit Evelina oder Vasco. Ich könnte auch Teresa anrufen, vielleicht geht sie mit mir. Oder Ricky und Bruno, irgendjemanden werde ich schon dafür finden
- In die Fábrica Velha gehen und das Flair genießen, das dort entstanden ist. Die Cafés und Restaurants, die Designer, die Läden, der Buchladen. Einfach mal abends auf dem Gelände der Fábrica Velha ein Bierchen trinken gehen
Liste gegen Claudio:
- Ich glaube, er ist sehr konservativ, ich habe es gemerkt, die Familie ist ihm so wahnsinng wichtig, nicht, dass das was Schlechtes ist, oder gegen ihn spricht, aber es hat was sehr Konventionelles. Und ich, ich bin eher unkonventionell
- Er ist nicht nur konventionell, ich habe im Gespräch rausgehört, dass er rechts wählt, nicht rechts-rechts, aber doch bürgerlich-rechts, und ich bin grün-links-rot-orange, immer gewesen. In sechs Worten: er ist schwarz, ich bin Regenbogen
- Er ist ein totaler Realist, er glaubt nur, was er sieht, alles andere lehnt er ab, man muss ja nicht so wie Bine sein, mit Tarot, Pendeln und Astrologie, aber vielleicht gibt es ja noch was dazwischen, und zumindest könnte er ja offen sein dafür, dass anderes möglich ist, aber nein, das ist er nicht, das hat er deutlich gesagt, dass er das für esoterische Spinnerei hält
- Er ist Mathematiker, siehe Punkt zwei
- Er ist zehn Jahre jünger als ich, das ist sowieso ein No-Go. Er wird immer zehn Jahre jünger sein als ich. Und je älter ich werde, desto mehr wird der Abstand auffallen
- und da mache ich mich doch im Grunde nur lächerlich mit und wer will sich schon lächerlich machen. Ich nicht
- Er arbeitet in Moskau. Moskau ist weit weg
- Er meldet sich nicht.
Bisher habe ich immer nur das gesehen, was positiv war und was ich toll fand. Jetzt, wo ich diese Liste mache, sehe ich, wieviel da eigentlich negativ ist. Ich habe nur nicht hingesehen. Ich hätte viel früher hinsehen müssen. Ich bin dabei, die Schwerter aus meinem Herzen zu ziehen. Jetzt müssen nur noch die Wunden heilen. Aber vielleicht ist es ja wie mit dem Knie. Es hat gedauert. Er hat höllisch weh getan. Ich musste eine Zeitlang an Krücken gehen. Aber jetzt ist alles wieder gut und ich kann wieder laufen.
Jetzt ist nur noch eins zu öffnen.
Joãos Päckchen. Wieso hat er mir ein Päckchen geschickt? Und warum hat er mich nie gefragt, ob ich es bekommen habe? Vielleicht sollte es eine Überraschung sein. Aber irgendwann würde man doch mal nachfragen, oder? Und der João hätte doch eigentlich
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