Kochlowsky 1: Vor dieser Hochzeit wird gewarnt
heute unendlich beschert worden. Ich weiß jetzt, daß du weinen kannst … daß du ein weiches Herz hast. Das ist so schön.«
»Du bist ein elender Tintenpisser!« sagte Leo und war wieder der alte Kochlowsky. »Wo ist die Gans?«
»Sofort! Nimm Platz und leg das Bild aus der Hand. Beim Essen brauchst du deine Finger. Mit Sophie an der Brust kriegst du keinen Bissen hinunter.«
Es war das stillste und seligste Weihnachten im Leben Leo Kochlowskys.
Das Jahr 1888 war ein deutsches Schicksalsjahr.
Das ›Drei-Kaiser-Jahr‹.
Wilhelm I. starb, sein Sohn, Kaiser Friedrich III. von Kehlkopfkrebs gezeichnet und jahrelang von den Ärzten falsch behandelt, starb nach 99 Tagen Regierungszeit am 15.6.1888 in Potsdam. Ihm folgte sein Sohn als Kaiser Wilhelm II. auf den Thron, ein junger Mann, der schon vorher zur Kenntnis gegeben hatte, daß ihm die Politik Bismarcks nicht gefiel.
Durch das Deutsche Reich mußte – das ahnte jeder – ein anderer Wind wehen, kein besserer, auch das war klar. Bismarcks unbestechlicher Blick für die Weltlage, vor allem nach Osten auf Rußland, der zu dem Ausspruch führte: »Laßt den Bären schlafen«, war völlig konträr zu dem Säbelrasseln, das Wilhelm II. liebte.
Noch ahnte man zwar nur, was alles einmal kommen würde; die Wirtschaft blühte, Erfindungen veränderten die Welt, das Maschinenzeitalter begann und damit die Präsenz des Proletariats. Sozialreformen drängten nach vorn, der Mensch war keine bis zum letzten auszunutzende Arbeitskraft mehr, sondern forderte Rechte, die tief in das bisher vorherrschende Patriarchatsdenken eingriffen. Eine Umschichtung der Gesellschaft begann, von der man schon seit 1848 geträumt hatte in den Manifesten der Paulskirche.
Auch auf Pleß spürte man die Auswirkungen des schnellen Kaiserwechsels. Der Fürst war jetzt mehr in Berlin als auf seinem Schloß, er gehörte zum Beraterstab des jungen Kaisers, der Pleß seinen väterlichen Freund nannte, aber auch Bismarck beschlagnahmte den Fürsten, lud ihn zur Tafel, und da Bismarck ein großer Esser und ein noch fulminanterer Trinker war, wurde jede Einladung für den Fürsten zur Prüfung seiner Standfestigkeit.
Zwischen Lubkowitz und Pleß hatte sich ein reger Briefverkehr entwickelt. Die Post lief allerdings über Eugen und Louis Landauer, die Leos Briefe an Sophie weitergaben und von ihr die Antworten für ihn bekamen. So waren Jakob Reichert und Wanda in keiner Weise mehr gefährdet, und die Fürstin von Pleß hatte keine Ahnung, was hinter ihrem Rücken geschah.
Aus Bückeburg waren zwei Briefe gekommen, beide von Sophies Mutter und an Leo Kochlowsky in Lubkowitz gerichtet. Für Leo bedeuteten sie das Ende einer Hoffnung. Die Mutter schrieb, daß es unmöglich sei, ihrer Tochter die Erlaubnis zu dieser Ehe zu geben. Umstände, die man zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht erklären könne, verhinderten eine Hochzeit. Außerdem sei Sophie mit siebzehn Jahren noch viel zu jung. Sie sollte erst ihre Köchinnenlehre vollenden, nach Erreichung der Großjährigkeit wolle man weitersehen.
Es war eine Antwort, die Leo fast erwartet hatte. Sie veranlaßte ihn aber auch, den Entschluß, Schlesien zu verlassen, ins Auge zu fassen und für sich und Sophie eine neue Stellung zu suchen. Er schrieb eine Menge Bewerbungen an Herrenhäuser und Güter, die ihm durch seine Plesser Tätigkeit bekannt waren, und mußte erleben, daß man dort durchaus nicht auf einen Leo Kochlowsky wartete. Die Verwalterposten waren besetzt, wurden in naher Zukunft auch nicht frei. Es gab nur in verschiedenen Rentämtern Buchhalterstellen oder Vakanzen für untergeordnete Betriebsleiter, etwa für die Schweinemast oder die Molkerei. Ein Abstieg also.
Im Juli erschien unverhofft Fürst Pleß auf Gut Lubkowitz. Leo Kochlowsky hatte gerade noch Zeit, Sophies Porträt wegzutragen und in sein Bett zu legen, als der Fürst ins Haus kam.
Wie gewohnt, meldete Kochlowsky die Geschehnisse auf dem Gut und gab einen schnellen, präzisen Überblick. Er endete damit, daß er sagte:
»Ich kann es Euer Durchlaucht nicht ersparen, zu berichten, daß man Euer Durchlaucht in den letzten drei Jahren um rund 2.400 Zentner Kartoffeln beschissen … pardon … hintergangen hat. Das ist bei dem Aufkommen der Ernten nicht viel, aber immerhin kann man sich von dem Erlös von 2.400 Zentnern gut den Hintern wärmen …«
Pleß nickte, setzte sich an den Tisch und lächelte Kochlowsky väterlich an.
»Warum sind Sie bloß ein solch mieser Kerl,
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