Köhler, Manfred
können, aber doch genau spüren musste, dass er sie loswerden wollte.
Nach ein paar Wochen schon ging die Saat auf. Auch sie mied die ehrliche Aussprache, sie spielte sein Spiel mit und nahm sogar die Schuld auf sich: „Ich sehe ein“, sagte sie „dass ich dich überfordert habe.“ Schon mit diesem leisen, traurigen Bekenntnis brannte erstmals ein bitterer Schmerz in ihm auf. Er konnte sich nicht wirklich befreit und erleichtert fühlen, als sie auszog, er ahnte tödliche Einsamkeit. Sein Haus erinnerte überall an sie, ihr Duft hing noch in den Räumen, und das Gepolter der Kinder klang ihm in den Ohren. Er hatte das Leben aus seinem Haus geekelt, er hatte die Frau von sich gestoßen, die mehr als alle bisher bereit war, es ihm in jeder Hinsicht recht zu machen. Nun endlich, da es zu spät war, der Punkt der Umkehr war überschritten, gestand er sich ein, dass diese Liebe gegenseitig gewesen war, auch das war in seinem Leben neu gewesen, und nun hatte er sich dieses Glück willkürlich zerstört. Er fing an sich Hoffnungen zu machen. Vielleicht war sie zurückzugewinnen, wenn es ihm gelänge, sein Verhalten verständlich zu machen und sie um Verzeihung zu bitten. Sie aber verweigerte ein Treffen: Es sei besser so, flüsterte sie, wenn er bei ihr anrief, und hatte Tränen dabei in der Stimme.
Vielleicht hätte er es weiter versucht, und vielleicht hätte er irgendwann sogar Erfolg damit gehabt. Zwei Wochen nach der Trennung aber erreichte eine Polizeimeldung die Wallfelder Rundschau, er nahm von ihr Kenntnis, als die Kollegen, bei denen sie angekommen war, sie lautstark kommentierten: stark verweste Leiche in einem abgelegenen Waldstück gefunden und als vermisster Wallfelder identifiziert. Nach bisherigem Stand der Ermittlungen war es Selbstmord.
Lothar Sahm wagte es nicht mehr, sich bei Andrea zu melden. Er hatte das Gefühl, auf Schritt und Tritt von vorwurfsvollen Blicken verfolgt zu werden. Wussten womöglich auch alle in der Redaktion Bescheid? Die Kollegen redeten über den Fall, als sei es irgendein Selbstmord, einer mit spektakulärem Hintergrund vielleicht, aber als beträfe er sie nicht eigentlich, als gäbe es nicht diese eine Person, durch die das tragische Ereignis ganz in ihre Nähe getragen wurde. Man sprach ihn nie direkt darauf an, obgleich der Fall Tagesgespräch in Wallfeld war und natürlich etliche Leute auch das Drama im Vorfeld mitbekommen hatten, also genau wussten, wer es war, der da in die Ehe eingedrungen war und ihr den Todesstoß versetzt hatte. Er hatte einmal auf dem Polizeirevier anzutreten wegen seiner damaligen Aussage zur Vermisstenmeldung, das war alles, der Fall kam zu den Akten.
Vielleicht wäre es Lothar Sahm gelungen, seine Schuld noch rascher und vollständiger zu verdrängen und umzulügen, als er es später dann schaffte, wären nicht ein paar Monate nach dem Leichenfund diese Anrufe losgegangen. Andreas ältester Sohn war durchgebrannt und schlug sich als Straßenkind in Berlin durch, über drei Ecken hatte Lothar Sahm davon erfahren. Dieser Sohn rief nun über Wochen hinweg bei ihm an, meist weit nach Mitternacht, und terrorisierte ihn mit Vorwürfen. Lothar Sahm nahm es als gerechte Strafe, setzte sich damit auseinander und versuchte, positiv auf das Kind einzuwirken. Das Kind antwortete mit Morddrohungen. Lothar Sahm wünschte sich eine Zeit lang, der verzweifelte Junge möge die Drohungen wahrmachen.
Dann fiel ihm eine bessere Möglichkeit ein, dem Alptraum zu entkommen. Er begann sich zu fragen: Wie wäre die Geschichte verlaufen, wären wir tatsächlich nach Amerika ausgewandert? Es war doch die perfekte Beziehung, nur die Umstände standen uns im Weg. Was, wenn wir den Umständen ein Schnippchen geschlagen hätten? Irgendwie kam er damit nicht weiter, egal ob er die Kinder zu seiner Fantasie-Auswanderung mitnahm oder sie zu Hause bei ihrem Vater ließ. Er versuchte es anders: Er änderte die sozialen Gegebenheiten, er änderte die Charaktere – wie hätten die Gegebenheiten und Charaktere sein müssen, dass alles hätte glücklich enden können, so glücklich, wie es doch in der Beziehung angelegt war? Die Idee gab ihm Auftrieb, mit dieser Flucht eines Liebespaares vor den Umständen in der Heimat habe er endlich den großen, tragischen Romanstoff, nach dem er lange schon gesucht hatte. Natürlich musste er die Rahmenbedingungen dramatisieren, noch viel spannender wäre es doch, dem Liebespaar kulturelle Barrieren mit auf den Weg zu geben: Seine weibliche
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