Köhler, Manfred
Ihren Chef wenden, den Herrn Crähenberger. Der ist ein hochmoralischer Mann, der wird keinen Ehebrecher unter seinen Mitarbeitern dulden.“ Unter den Mitarbeitern, indes, war allgemein bekannt, dass Crähenberger den hochmoralischen Mann zwar mit großem Talent spielte, aber sich – bei allen Zumutungen am Arbeitsplatz – nie in das Privatleben irgendeines Menschen einmischte.
Lothar Sahm blieb gelassen, bis sein Rivale unter Tränen drohte, diese Frau sei ihm alles, wenn er sie verliere, wolle er nicht mehr leben. „Wollen Sie denn diese Schuld auf sich laden, dass sich ein Mensch wegen Ihnen umgebracht hat?“ Lothar Sahm sah nun den Tiefpunkt der Klamotte erreicht, dieser Weichling ekelte ihn an. Von da an hörte er auf, auch mitfühlend an ihn zu denken und ihn als den armen Tropf zu sehen, der eben mit allen Mitteln seine Familie verteidigte. Nun, da er ihn mit Selbstmord erpresste, hatte er moralisch verspielt. Es half nichts, ihn zur Vernunft aufzurufen: „Nun nehmen Sie sich mal zusammen, jede dritte Ehe wird heutzutage geschieden, das ist doch nicht der Weltuntergang!“
Lothar Sahm predigte gegen seine Überzeugung. Er war ja gar nicht auf klare Verhältnisse aus. Nie war damit zu rechnen gewesen, dass es so kommen könnte, Andreas Vorgeschichte sprach für ihn dagegen: Sie hatte im Alter von 18 geheiratet, weil das erste Kind unterwegs gewesen war, ihren Mann hatte sie nie wirklich geliebt, aber gehofft, sie würde sich zumindest an ihn gewöhnen. Was sie nun wollte im Alter von 28 Jahren, so machte sich Lothar Sahm vor, waren Abenteuer. Sie wollte ihre versäumten Jahre als junge und unabhängige Frau nachholen, aber bestimmt nicht von der einen in die andere feste Bindung schlittern. Vielleicht benutzte sie ihn gar nur, um ihrer Ehe zu entkommen, und würde danach auch ihn verlassen und ihr Leben nachholen – irgendwie tröstete ihn dieser Gedanke auch, aber Unsinn, dazu würde es nicht kommen, auch sie würde vor diesen Selbstmorddrohungen zurückschrecken, sie gingen wirklich unter die Haut, so tief verzweifelt sie vorgetragen wurden. Da half es auch nichts, sich einzureden, dass einer, der offen drohte, ganz sicher nie zur Tat schritt.
Kurzum, es war ein einziges Durcheinander extrem gegensätzlicher Stimmungen und Ansichten, das Lothar Sahm in dieser Zeit herumbeutelte. Ruhe und Halt fanden er und Andrea in den wenigen gemeinsamen Stunden bei ihren Fantasie-Auswanderungen, inzwischen hatten sie schon alle US-Staaten durchgesponnen, am besten gefiel es ihnen auf Hawaii.
Alles schien sich ein bisschen stabilisiert zu haben, da stellte Andrea beide Männer vor vollendete Tatsachen: Weil Lothar Sahm sie nicht eingeladen hatte, zu ihm zu ziehen, floh sie vor dem unausgesetzten Gejammere ihres Mannes kurzerhand mit den Kindern und den nötigsten Habseligkeiten in eine Zweizimmerwohnung. Ein Mietverhältnis nur für zwei Monate, in dieser Zeit sollte die Entscheidung fallen. Der Ehemann versuchte alles, sie in seinem Sinne zu erzwingen, er schreckte nicht einmal davor zurück, die Kinder auf dem Schulweg abzupassen, sie mit zu sich zu nehmen und zu versuchen, sie mit Geschenken und Verleumdungen an sich zu binden. Das Zerwürfnis, war es zuvor schon hässlich genug gewesen, nun wurde es zur Tragödie. Andrea ließ ihren Hass auf diese Monstrosität von Ehemann offen heraus, und Lothar Sahm, der es fertigbrachte, sich als weitgehend unabhängigen Beobachter zu sehen, hatte keinen Zweifel mehr, dass auch der Ehemann sie inzwischen hasste, dass es ihm nur noch darum ging, seinen Willen durchzusetzen.
Ebenso wenig Zweifel aber hatte er daran, dass diesem Kerl seine Verranntheit nicht bewusst war und dass er zum Einlenken aus eigener Einsicht nicht fähig sei. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, Andrea und die Kinder zu sich zurück zu zwingen, komme was da wolle. Mit Sicherheit würde es ihm sogar gelingen, beugte sie sich seinem Willen tatsächlich, den liebenden Ehemann nicht nur zu spielen, sondern so zu tun, als sei nie etwas geschehen und wieder in der Rolle des bedingungslos treusorgenden Familienvaters aufzugehen. Lothar Sahm fragte sich in dieser Zeit gelegentlich, ob er selbst Andrea eigentlich immer noch liebte oder ob sie inzwischen nichts als ein Knochen war, in den sich zwei Hunde verbissen hatten. Wollte er überhaupt emotional beteiligt sein an diesem zwischenmenschlichen Gärungsprozess, bei dem er, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein, die Rolle eines Ferments übernommen
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