Köhler, Manfred
locken mit ihrer Stimme und mit kleinen harmlosen Bewegungen, wie er selten zuvor gelockt worden war. Sie leitete einen der Kochkurse des Hausfrauenbundes, und der Tiefkühlpizzabäcker Lothar Sahm, der zu Hause weder Gewürze in der Küche hatte noch irgendwelche frische Zutaten, der nie nach einem Kochbuch oder gar nach eigener Fantasie am Herd etwas zuwege gebracht und auch gar kein Interesse daran hatte, erschien wenige Abende nach der Jahreshauptversammlung in diesem Kurs. Anfangs wusste er nicht, ob sie sich ihm besonders widmete, weil er Redakteur war und es Vereinsmenschen nun mal im Blut lag, zu Zeitungsmenschen unabhängig von Sympathie freundschaftliche Verhältnisse aufzubauen – oder ob sie sich tatsächlich ihm zuwandte, dem Privatmann, als der er da saß.
Schon nach dem zweiten Abendkurs wusste er es. Ihm gab sie nicht Ratschläge wie allen anderen Kursteilnehmern, ihm führte sie die Hand beim Rühren im Kochtopf; ihm gab sie nicht notwendige Rezepttipps, wie man sie als Grundlage zu beherrschen hatte, um als Hausmann über die Runden zu kommen, sondern mit ihm kochte sie so, wie er zu kochen hatte, um sie verführen zu können. Es kam dazu eine Woche nach seinem ersten Abend im Kurs, ihr Ehemann war beruflich verreist; den Kurs besuchte Lothar Sahm von dieser Nacht an nicht mehr. Nun kam sie vor ihren Vereinspflichten bei ihm vorbei. Problemlos ging das von Anfang an nicht, der Kurs begann um 20 Uhr, und er hatte in der Regel bis 19 Uhr in der Redaktion zu schmachten, schon nach wenigen Tagen mangelte es ihm an Ausreden, warum er schon wieder vor 18 Uhr Feierabend zu machen und die Kollegen mit dem größten Stress allein zu lassen hatte.
Schließlich erwies es sich als beste Lösung, sich am Vormittag zu treffen. Andreas Mann ging spätestens um halb acht mit den Kindern aus dem Haus, und Lothar Sahm konnte es so hinbiegen, dass er mit Einverständnis von Walter Wonschack regelmäßig erst um zehn oder halb elf in der Rundschau erschien, er arbeitete dafür mittags durch oder blieb abends länger. Für zwei, drei Monate erlebte er die glücklichste Zeit dieser Beziehung, vielleicht die glücklichste Zeit, die er mit einer Frau in seinem Leben gehabt hatte. Sie war die perfekte Partnerin für ihn, er liebte sie, und sie liebte ihn – und das Beste war: Er hatte keinerlei Verpflichtungen mit ihr. In dieser Zeit entwickelten sie gemeinsam ihre Auswanderer-Fantasie. Für Lothar Sahm war diese Fantasie die Verlagerung seines paradiesischen Liebeslebens in ein Land, das ihn aus tiefster Seele lockte und eine Flucht vor allem aus dem tristen Berufsalltag; für Andrea war sie, wie er erst später begriff, etwas ganz anderes und viel mehr als nur Träumerei.
Zur einzigen Zuflucht wurde diese Fantasie, als der gehörnte Gatte sich einschaltete. Lothar Sahm war der Meinung, dass er wohl von Anfang an etwas geahnt und heimlich herumspioniert hatte, bis er ihnen eines Tages hochdramatisch gegenübertreten konnte; Andrea sah ihn aus heiterem Himmel in ihre schöne Traumwelt eindringen, diesen Störenfried und Miesmacher. Die Auswanderer-Fantasie entwickelte nun abenteuerliche Züge, Lothar Sahm machte auch diese Wendung begeistert mit, sie gefiel ihm, so lange sie Fantasie blieb. Dieser Ehemann störte ihn zwar, er empörte sich über dessen Aufdringlichkeit, seine Drohungen, sein weinerliches Getue; insgeheim aber fand er es sogar spannend, von dem Kerl beobachtet und belagert zu werden. Natürlich hatte er seine Durchhänger, er beklagte sich dann bei seinem Schicksal über diesen Streich, dass er nun zwar endlich eine wunderbare, scheinbar fehlerlose Frau gefunden hatte, die ihm alles gab und die ihn ebenfalls aufrichtig liebte, dass er mit ihr aber nicht ohne Störungen zusammen sein und eine Zukunft mit ihr haben durfte.
Als sich eine solche Zukunft dann abzeichnete, wurde ihm augenblicklich mulmig zumute. Andrea sprach davon, ihren Mann zu verlassen: Was war dabei? Eine Scheidung war heutzutage etwas ganz Normales, fast schon die Regel, man hatte sich nichts vorzuwerfen. Die Kinder waren alt genug, die würden darüber hinweg kommen. Er glaubte nicht, dass sie es ernst meinte, er war ja schließlich nicht ihr erster Seitensprung, und immer hatte sie sich doch für die Familie entschieden. Er glaubte es so lange nicht, bis die Drohungen ihres Mannes eine neue Qualität annahmen. Sie klangen nun nicht länger so utopisch wie: „Wenn Sie nicht endlich meine Frau in Ruhe lassen, dann werde ich mich an
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