Kölner Kreuzigung
Arbeitsplatz.
Tatsächlich war Marius bei seinen Recherchen im Internet fündig geworden, und das Ergebnis begutachtete er nun aufmerksam. Im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg hing ein Gemälde Stephan Lochners mit dem Titel ›Christus am Kreuz‹. Aber könnte ein Bild, das im Kölner Wallraf-Richartz-Museum verschwand, so einfach in einem Nürnberger Museum auftauchen? Marius hatte weitergesucht und eine Abbildung des Nürnberger Bildes gefunden. Die verglich er mit der Fotografie, die Malven ihnen von der Kreuzigung mitgegeben hatte. Eine gewisse Ähnlichkeit ließ sich nicht leugnen. Dennoch hatte er kaum Zweifel, dass es sich um zwei verschiedene Gemälde handelte. Zur Sicherheit versuchte er Museumsdirektor Malven telefonisch zu erreichen, erhielt aber nur ein Besetztzeichen als Antwort. Auch wenn der Besuch der Universität wenig Ergebnisse gebracht hatte, war es vielleicht keine schlechte Idee, doch noch das ein oder andere Buch zu wälzen. Was sollte er auch sonst tun, so lange Brock die Laufarbeit selber erledigen wollte?
Doch bevor er das Büro verließ, gab er den Namen der Familie Hochkirchen in der Suchmaske ein. Der Name allein brachte 110.000 Ergebnisse. Also schränkte er die Suche auf Köln ein und musste zu seiner Überraschung feststellen, dass der Name in Köln offenbar sehr verbreitet war. Die Begriffskombination Hochkirchen und Köln brachte immerhin stolze 88.000 Suchergebnisse. Neben einem kleinen Stadtteil im Stadtbezirk Rodenkirchen gab es verschiedene Firmen und Familien mit diesem Namen. Der Detektiv blätterte einige Seiten durch, die ihn jedoch nicht weiterbrachten. Er beschloss, sich zunächst um das Bild zu kümmern. Deshalb nahm er seine Lederjacke vom Haken und verließ das Büro.
Knapp fünf Minuten brauchte er zu Fuß zu seiner Wohnung, überquerte die Venloer Straße mit ihren türkischen Geschäften, vor denen wie immer Grüppchen von Männern beisammenstanden, und bog in die Stelmacher Straße, wo er über einer alten Kneipe ein Zweizimmerappartement bewohnte, das sich in seiner Einrichtung nur wenig vom Büro unterschied: alte zusammengesuchte Möbel, viel Papier, ein altes Laptop auf dem Resopalküchentisch, vor allem aber ein paar alte Bücher aus dem Studium in einem wackligen und überfüllten IKEA-Regal neben dem Kühlschrank. Marius zog einen großen Band über mittelalterliche Kunst hervor. Er erinnerte sich, dass dieses Buch in der Universität verpönt gewesen war. Zu wenig wissenschaftlich. Zu wenig ›history‹, zu viel ›story‹. Vielleicht gab es ja eine Story über Lochners Kreuzigung und den Kaufmann Hochkirchen?
Marius blätterte das Buch durch, bis er schließlich ein paar Seiten über Lochner fand. Tatsächlich hatte sich der Autor über Lochners Kreuzigung ausgelassen. In seiner ausschweifenden Art erklärte er das Bild, das kaum jemand jemals zu Gesicht bekommen hatte, weil es seit Jahrhunderten in Familienbesitz war, zu einer Art Mythos des Lochner’schen Werkes. Beim Lesen der blumigen Zeilen verstand Marius, warum das Bild in der wissenschaftlichen Literatur so gut wie nicht auftauchte. Kaum ein Kunsthistoriker hatte es jemals gesehen. Erst im 18. und 19. Jahrhundert entwickelte sich die Kunstgeschichte als Wissenschaft, doch zu dieser Zeit war das Bild längst zum Zankapfel der wechselnden Eigentümer geworden, sodass jeder, der es besaß, zwar gerne damit angab, es jedoch niemandem zeigte. Unter anderem deswegen wurde seine Existenz oft angezweifelt. Der Beinahe-Kunsthistoriker Marius Sandmann konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Nicht wenige Koryphäen seines Fachs hätten etwas darum gegeben, dieses Bild einmal sehen zu können. Er würde es vielleicht tun. Mit wachsendem Interesse las er weiter.
Um das Bild hatte über Jahrhunderte ein Familienzwist bestanden, für die verschiedenen Stämme der Hochkirchen war es so etwas wie das zentrale Erbe ihrer Familie, ein echter Lochner. Vor allem aber glaubte die Familie, wie es in dem Buch hieß, das Bild sei ›für seinen Eigentümer ein Quell von Reichtum und Wohlstand und Zeichen, Oberhaupt der Familie zu sein.‹ Ein Aberglaube, der Marius schmunzeln ließ. Dem Buch entnahm er, dass Lochners Auftraggeber Gerhardt Hochkirchen von einer Geschäftsreise nach Mailand zwei Holzstücke mitgebracht habe, die ihm ein Mönch als Teil vom Kreuz Jesu Christi verkauft habe. Diese beiden Holzscheite, so wollte es die Legende, hatte Lochner in sein Bild integriert und darauf seine Kreuzigung
Weitere Kostenlose Bücher