Kölner Kreuzigung
Türgriff und schwieg. Fast wäre der 1,90 Meter große Hauptkommissar an die Wagendecke gestoßen, als Paula Wagner in die Parkhauseinfahrt unter dem Rheinauhafen einbog. »Wenn du uns umbringst, holen wir die Zeit auch nicht wieder auf«, versuchte Bergkamp ein letztes Mal auf Paula Wagners Fahrstil einzuwirken.
»Jeder weiß, dass die entscheidende Zeit einer Ermittlung die ersten Stunden sind und was macht dieser Schönling? Hält uns auf!« In einem schnittigen Bogen parkte Wagner den Vectra und stellte den Motor aus. »Zurück zu den Nachbarn! Wissen wir, bis wann die Party ging?«, wandte sie sich an den Hauptkommissar, der nicht schnell genug aus dem Wagen aussteigen konnte.
»Ich habe Brandt und die Kollegen vor Ort nicht erreicht. Ich denke, die Hausbewohner werden uns weiterhelfen können.« Sie nahmen den nächstgelegenen Treppenaufgang – Paula Wagner verließ sich darauf, dass sich Bergkamp die Nummer merkte – und kamen unter den neuen, nur zum Teil fertiggestellten Kranhäusern wieder hervor. Die Kommissarin bewunderte den Blick hinauf auf die gigantischen Glaswinkel und fragte sich, warum sie nicht einfach vornüber fielen und in den Rhein stürzten. Sie gingen die paar Meter zu den alten Speichergebäuden des sogenannten Siebengebirges, die nun zu schicken Wohnungen und Büros umgestaltet worden waren, und betraten den Eingang zum Treppenhaus, das sie bis nach oben zur Wohnung der Opfer führen würde.
So modern und kostspielig es war, hier zu wohnen, so wenig bekamen die Nachbarn offenbar voneinander mit, dachte Paula Wagner, nachdem sie eine Stunde lang ergebnislos durch den Flur gegangen waren. Niemand hatte etwas gesehen, niemand hatte etwas gehört. Selbst dass im Haus ein Mord geschehen war, hatten einige der Hausbewohner nicht mitbekommen. Es trampelten seit 9 Uhr morgens ja auch nur ein Dutzend Polizeibeamte und Mitarbeiter der Spurensicherung durch das Treppenhaus. Das konnte man schon einmal übersehen, dachte Paula Wagner ein wenig zynisch. Kurz darauf fuhr sie auf dem Weg ins Präsidium ein gutes Stück langsamer. Das Treppensteigen hatte sie ein wenig beruhigt.
Bergkamp nestelte erneut sein Handy hervor, diesmal hatte er mehr Glück. Paula Wagner lauschte seinem Teil des Gesprächs, während sie den Wagen leise fluchend durch den nachmittäglichen Berufsverkehr lenkte. »Können wir wenigstens die Tatzeit eingrenzen? 4 bis 5 Uhr morgens, na, das ist immerhin was. Und Einbruchsspuren habt ihr auch keine gefunden? Gestohlen wurde auch nichts? Soweit ihr das überblicken könnt? Ob das Mädchen missbraucht wurde, könnt ihr mir heute Nachmittag sagen?« Dass der Mann missbraucht worden sein könnte, schien weder Bergkamp noch dem Forensiker in den Sinn zu kommen, dachte Wagner. »Das hätte man deutlich gesehen.« Manchmal konnte Bergkamp ihre Gedanken lesen. Er wandte sich wieder seinem Mobiltelefon zu, während sie sich weiter auf den Straßenverkehr konzentrierte. »Gut, gut. Das reicht uns für den Anfang.« Bergkamp klappte sein Mobiltelefon zu. »Doktor Brandt geht von einer Tatzeit zwischen 4 und 5 Uhr aus. Gegen halb acht klingelte der Fahrer der Filmproduktionsfirma, und nachdem niemand geöffnet hatte, rief er in der Firma an, um zu fragen, was er tun sollte. Daraufhin erschien die Agentin Albertis um halb neun. Offenbar besitzt sie einen Zweitschlüssel zur Wohnung.«
»Interessant«, sagte Paula Wagner, dann beschimpfte sie lautstark den Fahrer eines vor ihr gemächlich dahinschleichenden VW Passats.
Auf dem Bildschirm vor ihm baute sich eine Abbildung von Stephan Lochners ›Christus am Kreuz‹ auf. Marius Sandmann hatte im Internet nach mehr Informationen über Lochners Kreuzigung gesucht, die die spärlichen Angaben, die er in der Uni gefunden hatte, ergänzen könnten. Deswegen saß er gerade in seinem Büro in der Detektei Brock. Genauer gesagt im Vorraum des Büros. Brock hatte ein kleines Zweizimmerbüro auf der Vogelsanger Straße in Ehrenfeld angemietet, mit einem kleinen abgeschlossenen Büro für sich, in dem er die alten Möbel des Vorgängers, einer Buchhaltung, einfach übernommen hatte. Marius fand immer, dass diese abgenutzten schlichten Möbel aus den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts perfekt zu Brock passten. Dem älteren Detektiv selber war das vermutlich gar nicht bewusst, er hätte nicht einen Gedanken daran verschwendet. Der Vorraum diente als Küche, Aufenthaltsraum, Besprechungszimmer und eben auch als Marius’
Weitere Kostenlose Bücher