Königsallee: Roman (German Edition)
der Empfindungsreiche öffnet, in ein überraschendes Universum schleust, diese Magie ist nur stümperhaft zu beschreiben, so, als wolle man Musik beim Wort nehmen –», die Gedrungene aus dem Tiefland wirkte beeindruckend sattelfest, «Sie ließen ein vergangenes Lübeck aufleben. Sie erzählten uns vom Ende bisheriger Weltharmonie mittels der verzweifelten Klangexperimente, durch die der Komponist Adrian Leverkühn noch einmal, als ein Später der Kultur, ein versöhnliches, alle Gefühle umfassendes Werk stiften will.» Das Paar staunte. Nicht grundlos hatte das vielleicht oft verkannte Trave-Blatt seine Rote geschickt. «Einprägsam sind Ihre Menschenbilder, darunter der nach Schönheit und Sinnlichkeit lechzende Gustav Aschenbach, sodann der zynische Wissenschaftler Behrens als Klinikchef des Zauberbergs, ein Prototyp moderner Zeiten. Sie erschufen manche bresthafte, krüppelige Gestalt vielleicht als Abbild menschlicher Schwäche oder als Würze der Buchgeschehnisse. Leser fühlen sich gerne gesünder, besser oder klüger als das Dargebotene …» Die Manns fixierten gepeinigt die Decke.
«Landschaftsschilderungen, eindrucksvolle Naturbilder sind Ihnen hingegen, soweit man sich umhört, selten gelungen. Steckt dahinter Absicht?»
Qualm stieg steil über dem Gestühl auf. Schockiert wandte Katia Mann ihr Augenmerk zur Seite. Trotz eines nervösen Augenzuckens inhalierte der Neunundsiebzigjährige scheinbar gelassen einen Zug. «Mein Wesen ist eher urban geprägt als ländlich. Scholle und Wald erzeugten schon genug Unsinn.» Die Dreiste notierte. «Zudem will mir scheinen, daß geistig moralische Konflikte, die unser Leben bestimmen, sich weniger in Lawinenabgängen und Schilderungen von Kiefernforsten widerspiegeln als im Gespräch, im Denken, in der Selbstfindung. Letzteres zu betreiben, ist wohl mein Trachten. Ich kann Ihnen vorzügliche Beschreibungen der Mangrovensümpfe am Mississippi von William Faulkner empfehlen. Baumwolle und Alligatoren kommen dort zu ihrem Recht. Jeder leistet sein Bestes, hoffe ich doch, und alles ergänzt sich. In einem höheren Sinne gewiß.»
Katia Mann nickte. Die Kleine fand keine Sitzhaltung, rückte sich immerfort auf ihren Backen zurecht, dabei baumelten die Füßchen mit rotem Pfennigabsatz. Mit einem gewissen Schrecken gewahrte Katia Mann, daß zwei Vorderlocken der Dauerwelle sich – doch das war ein Trugbild – leicht hörnerartig über der geschminkt-feuchten Stirn krümmten.
«Lawinen», die gleichfalls Angereiste blickte auf, «gewiß, auch Schlüsselblumen und Krokodile können als eine Zutat in unserem Existenzkampf gelten.»
«Sehr richtig.»
«Wie aber, Herr Mann, verhält es sich mit allen sozialen Gegebenheiten, besonders den von Menschen gemachten gesellschaftlichen Bedrückungen, die das Dasein prägen? Im Tod in Venedig erfährt der Leser wenig über die klammen Behausungen, in denen der wahrscheinlich arbeitslose Venezianer seine Nudel kocht. In Ihrer letzten Erzählung –»
«In der jüngsten, sagt man wohl.»
«Wie wahr … In Die Betrogene also erfährt man von einer liebesdurstigen Witwe, einem schmucken Studenten, doch nichts von gewiß elender Witwenrente und den vielleicht prekären Studienbedingungen des Ken Keaton. Sparen Sie bewußt den Alltag mit seinen Schrunden, dem Schweiß der Arbeit, Küchengeruch und Müllgestank aus? Wollten Sie nicht einmal einen proletarischen Roman für das arbeitende Volk schreiben? In dem es sich wiedererkennt und das es aufrichtet.»
Katia Mann reckte sich vor: «Wieviel Zeit, ich meine, wieviel Platz in Ihrer Zeitung haben Sie denn für Ihr Interview?»
«Ach», winkte die Gnomin mit dem Bleistift ab, «für unseren Nobelpreisträger, das Licht Deutschlands, kann ich ohne Probleme zwei, drei ganze Seiten freiräumen.»
«Wenn Sie an einen proletarischen Roman denken, ein Werk, in dem sich ein Teil des Volks förderlich selbst begegnet, ein sehr löbliches Unterfangen», formulierte der Dichter beinahe genüßlich, «so denken Sie zwangsläufig an Bücher, die Sie kennen. Sie wünschen sich von mir ergo etwas, was es bereits gibt oder was ähnlich fortgesetzt würde. Menschen wollen also erstaunlicherweise immer etwas, was ihnen bereits ungefähr geläufig ist. Ein altes Lied, und das ist nicht meines Berufs. Über meine Tochter könnten Sie aber gewißlich die Anschrift von Bertolt Brecht in der Ostzone erlangen, mit dem das Gespräch über Küchengerüche, Mülltonnen und was sie anrichten, ergiebiger
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