Königskind
Straßen des Reiches fuhren, die Sully mit als erste hatte bauen lassen, für Henri, wenn er
seine Kinder, legitime wie illegitime, in Saint-Germain besuchte. Aber wegen des Tauwetters und weil der Schnee ungleichmäßig
schmolz, war sie aufgeweicht und so voller Pfützen oder aber Glatteis, daß die Pferde höchstens dann und wann einmal in leichten
Trab fallen konnten. Die meiste Zeit gingen sie Schritt.
Obwohl man uns mit Decken, Wärmflaschen und Glutpfannen versorgt hatte, war es feucht und kalt in der Karosse und obendrein
ziemlich dunkel infolge der dicken, schwarzen Wolken, die den Himmel bis zum Horizont verhängten. In Ängsten über Monsieurs
Befinden, kauerte sich Ludwig bedrückt und schweigsam in seine Ecke. Und als sein Erzieher, der sich langweilte, wenn er nicht
reden konnte, allerlei nichtige Erinnerungen an alle schlimmen Winter hervorkramte, die er je erlebt hatte, schloß Ludwig
die Augen und tat, als ob er schliefe, was Monsieur de Souvré zu verstummen zwang. Ich sage, Ludwig tat so, denn es war unmöglich,
auch nur zu dösen, so fürchterlich wurden wir durchgerüttelt und waren jeden Augenblick in Gefahr, mitsamt der Karosse umzustürzen.
Mit schmerzenden Gliedern, zerschlagen und mißmutig langten wir in Saint-Germain-en-Laye um fünf Uhr abends an, aber es war
dunkel, als wäre es schon Nacht, so schwarz war der Himmel, und so niedrig hing er über unseren Köpfen. Ich war nur froh,
nachdem ich das stuckernde Gefährt verlassen |180| hatte, La Barge zu finden, der sich gerade aus den Kotillons der Zofen schälte, und ihm gleich einiges Geld zuzustecken, damit
er die Leute in Küche und Hofhaltung schmieren konnte; denn wenn Erste Kammerherren auch im Schloß logierten, war trotzdem
nicht für ihre Wärme und Nahrung gesorgt, da hieß es, schnellstens Trinkgelder austeilen, damit man Holz und etwas zu essen
bekam.
Kaum war das getan, hörte ich, daß der König, ohne auch nur die Stiefel auszuziehen, schon auf dem Weg war zu Monsieur. Ich
pfiff auf alle Würde, lief ihm nach und konnte ihn einholen, als er eben die Gemächer seines Bruders betrat.
Der arme Nicolas war vier Jahre alt. Er war mit einem übergroßen Kopf und einem schmächtigen, rachitischen Körper zur Welt
gekommen, so daß die Ärzte meinten, er werde nicht überleben. Das aber hatte er bis jetzt einigermaßen geschafft, wenn auch
mehr zu Bett als auf den Beinen und indem er auf die Welt der Gesunden um sich aus großen, schwermütigen Augen schaute. Trotzdem
hatte er überraschend früh sprechen gelernt. Er drückte sich tatsächlich weit besser aus als der Dauphin in seinem Alter,
stotterte nicht, sondern sprach klar und flüssig.
Als wir sein Kabinett betraten, erwachte er aus dem Schlaf, indem er jäh in die Höhe fuhr und gleich in Krämpfe verfiel, mit
verdrehten Augen und verzerrtem Mund, mit zuckenden Armen und Beinen. Das Herz schnürte sich einem zusammen bei diesem Anblick,
und besonders Ludwig sah ich erblassen, und seine Unterlippe zitterte. Doch dauerte die Krise nicht an, Nicolas kam allmählich
zur Ruhe, erkannte seinen großen Bruder und betrachtete ihn mit einem so rührenden Blick, als danke er ihm, daß er gekommen
war. Denn weil er von Geburt an als verurteilt galt, wurde er vom Hof kaum je beachtet und von der Königin noch weniger.
»Guten Tag, mein Bruder«, sagte Ludwig.
»Guten Abend, mein Papachen«, sagte Nicolas.
So nämlich nannte er den König seit der Ermordung Henri Quatres. »Ihr erweist mir zu große Ehre«, setzte er hinzu, »daß Ihr
Euch die Mühe macht, mich zu besuchen.«
Dieser Satz verwunderte mich durch seine Korrektheit bei einem Vierjährigen, doch blieb mir keine Muße, zu staunen, denn seine
Augen verdrehten sich wieder, sein Gesicht verzerrte |181| sich, und Doktor Héroard trat zu Ludwig und sagte halblaut: »Sire, bitte, zieht Euch zurück, Monsieur hat eine neue Krise.«
Ludwig machte auf dem Absatz kehrt und verließ so rasch den Raum, daß wir kaum folgen konnten, besonders der schwerfällige
Souvré. Wie schon vorher, holte ich Ludwig ein, doch kaum bei ihm angelangt, wich ich zurück, denn während er fast im Laufschritt
ging, weinte Ludwig strömende Tränen und wollte, weil er Tränen seines königlichen Ranges ungeziemend fand, wie stets dabei
nicht gesehen werden. Darum schloß er sich, sowie er in seine Gemächer kam, in sein Kabinett ein.
Da ich wußte, daß er vermutlich nicht zu sehen wäre, bevor
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