Königskind
in die Gemächer des Königs und fand Ludwig und den alten Abbé
Lefèvre dabei, die lateinischen Verben durchzupauken: ein sehr unerfreuliches Schauspiel, die Stunde zog sich zähe hin, schwunglos
wiederholte Lefèvre die Fragen, die Ludwig ohne Hoffnung, antworten zu können, über sich ergehen ließ, die Augen traurig nach
den Scheiben gerichtet, die jäh ein dicker Flockenfall verdunkelte. Aus der Hasenjagd, die er sich für den Tag vorgenommen
hatte, wurde also nichts. Schließlich erhob sich Monsieur Lefèvre, riet dem König mit milder Stimme, das schlechte Wetter
zum Lernen zu nutzen, und trippelte nach einer tiefen Verneigung vor seinem königlichen Schüler davon, tief erleichtert, diese
Anstrengung wieder einmal hinter sich zu haben.
In dem Moment ertönte großer Lärm vor der Tür zu den königlichen Gemächern, und hereintrat, gefolgt von einem guten Dutzend
gleichermaßen ungezogener Edelleute, der Marquis von Ancre mit federndem Schritt und geschwollenem Kamm.
Keine Frage, daß er als Erster Kammerherr das gleiche Recht wie ich hatte, hier zu sein. Aber für gewöhnlich machte er davon
kaum Gebrauch, da er sich zu hoch und der Regentin zu nahe dünkte, um Ludwig den Hof machen zu müssen. Seine Gegenwart erregte
bei den Anwesenden denn auch einige Überraschung, zumal der Marquis in hochmütigster Weise auftrat, die Hand in die Hüfte
gestemmt und mit überheblicher Miene.
|184| Gewiß war er ein ziemlich schöner Mann, groß, schlank, sehr reich gekleidet, und er gebärdete sich nobel und elegant. Auch
seine Physiognomie entbehrte nicht der Reize. Die Stirn war hoch, die Nase kühn, und die mandelförmigen grünen Augen waren
groß und glänzend unter den geschwungenen Brauen. Diese Augen waren an ihm das Verführerischste und, bei genauer Betrachtung,
auch das Beunruhigendste, denn es lag etwas Falsches und Verschlagenes in ihnen.
Drei Schritt vor dem König geruhte er endlich, seinen Hut zu lüften und ihm eine tiefe Reverenz zu erweisen, und, als Ludwig
ihm ziemlich kühl die Hand hinstreckte, einen Handkuß anzudeuten. Dann erhob er sich zu voller Größe und sagte mit lauter
Stimme und stark italienischem Akzent: »Sire, die Königin Eure Mutter hat mich beauftragt, Euch mitzuteilen, daß Monsieur
tot ist.«
Ludwig stand in dem Augenblick an seinem kleinen Studiertisch, er hatte seine Bücher und sein Schreibzeug geordnet. Binnen
einer Sekunde verlor er alle Farbe, er zitterte, setzte sich, und obwohl ihm die Tränen in die Augen stiegen, bezwang er sich
mit großer Anstrengung, denn er wollte nicht weinen vor dem Marquis von Ancre, der ihn von oben herab ansah und nach den Zeichen
des Kummers auf seinem Gesicht spähte. Ich muß gestehen, in dem Moment haßte ich diesen Menschen aus tiefstem Herzen.
Da der König schwieg, machte ihm der Marquis von Ancre abermals eine Reverenz, noch blasierter als die erste, und verschwand
mit seinem hündischen Schwarm, der ihm überall folgte und ihm die Stiefel leckte.
Sowie er fort war, sah man alle Gesichter fassungslos, nicht so sehr, weil Nicolas gestorben war – mit seinem Tod war zu rechnen
gewesen –, sondern wegen der wahrhaft unfaßlichen Weise, mit der die Nachricht dem König überbracht worden war. Gewiß hätte
niemand erwartet, daß die Königin selbst gekommen wäre, ihrem Ältesten den Tod seines kleinen Bruders mitzuteilen und mit
ihm zu trauern. Dafür waren ihre Kinder ihr zu gleichgültig. Aber sie hätte einen Boten wählen können, der für diesen Auftrag
geeigneter war: den Großkämmerer, den Herzog von Bellegarde oder die Herzogin von Guise und nicht diesen aufgeblasenen Emporkömmling,
den Ludwig verachtete, nicht ohne seine Macht zu fürchten.
|185| Nachdem der Marquis von Ancre kehrtgemacht hatte, sah ich Monsieur de Souvré und den Großkämmerer einen Blick wechseln, einen
einzigen, und sogleich die Augen senken wie beschämt über den Gedanken, den einer in des anderen Augen las.
Ludwig holte seine Bleisoldaten und begann mit ihnen zu spielen, rückte sie aber so lange hin und her, daß man deutlich sah,
sein Denken kam von der schrecklichen Nachricht nicht los. Nach einer Weile ließ er die kleine Armee stehen, ging zu Monsieur
de Souvré und sagte mit leiser, verzagter und den Tränen naher Stimme: »Monsieur de Souvré, wollt Ihr die Königin bitten,
daß ich nicht zu meinem Bruder gehen muß? Ich könnte es nicht ertragen.«
Souvré neigte den Kopf zum
Weitere Kostenlose Bücher