Königskind
kutschierte, wo ich genau eintraf, als die Glocke von
Saint-Germain-des-Prés mit gedämpftem Klang zwei Uhr schlug, gedämpft vielleicht durch den Schnee, vielleicht aber auch durch
meine Stimmung, denn ich war wie in Andacht gesammelt und weltabgewandt.
Kaum daß die Karosse vor dem Hôtel meiner Gräfin hielt, ging auch schon das Tor scheinbar von selber auf wie im Märchen. Es
schneite so stark und so dicht, daß ich mehr fühlte als sah, wie Herr von Beck mich am Arm faßte, sowie ich den Tritt hinunterstieg,
und daß ich mich mit einer Stimme, die mir selbst befremdlich klang, sagen hörte, er möge sich des Kutschers und der Pferde
annehmen. »Gewiß, gewiß, Herr Chevalier«, sagte er in mein Ohr. Und ohne im mindesten wahrzunehmen, daß ich ging, daß ich
stieg, fand ich mich auch schon wundersamerweise meines Mantels und Hutes entledigt und im bloßen Wams in der Beletage vor
einer goldgezierten weißen Tür, deren Messingklinke im Halbdunkel vertraulich blinkte. Ich klopfte an. »Herein!« sagte eine
Stimme bestimmt sehr viel leiser als das Blut, das in meinen Schläfen brauste.
Weil die karmesinroten Satinvorhänge die Fenster abdunkelten, wurde das Zimmer nur von einem ersterbenden Feuer und einem
Kerzenleuchter erhellt. Er stand auf einem Ebenholzschränkchen neben einem großen Baldachinbett, das an allen drei Seiten
durch Vorhänge verschlossen war.
»Sind Sie es, Chevalier?« fragte die Stimme hinter den Vorhängen.
»Ich bin es, Madame.«
|174| »Wollen Sie bitte die Tür abriegeln und Holz nachlegen?«
Was ich tat, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge, indem ich erst zwei Scheite einlegte und dann den Riegel schloß, der, so
groß er war, ganz leicht und leise glitt, sicher, weil er gut geschmiert war. Den Griff bildete ein Hundekopf, den meine Hand
flüchtig liebkoste wie zum Dank dafür, daß er die Schläferin hier bewachte.
Aber Frau von Lichtenberg war hellwach. Denn so wenig Geräusch der Riegel auch machte, sie hörte es und sagte, ich solle auf
der Leuchterseite des Bettes Platz nehmen. Was ich auch tat, nur sah ich keinen Schemel und kniete mich deshalb auf Samtpolster,
die dort lagen, und harrte eine ganze Zeitlang mit der Nase vor den geschlossenen Vorhängen, ohne anderes zu hören als einen
etwas schnell gehenden Atem.
»Madame«, sagte ich endlich, »wenn Sie unsichtbar bleiben wollen, darf ich wenigstens Ihre Hand küssen?«
Hierauf kein Wort, keine Silbe, vielleicht einfach nur, weil sie sich ihrer Stimme nicht sicher war, weil unsere gewagte Situation
ihr die Sprache verschlug, auch wenn sie in den langen Träumereien ihrer kurzen Krankheit sich dieses Gewagte ja selbst ersonnen
hatte.
Während ich mich angesichts ihrer Stummheit, deren Grund ich zu kennen meinte, in Geduld faßte und mich ermahnte, daß es gegen
mein Interesse wäre, etwas zu überstürzen, tauchte unter dem Vorhang ihre Hand hervor und streckte sich mir entgegen. Ich
ergriff sie, küßte sie mehrere Male, aber behutsam, denn ich versuchte alles, meine tobende Begier zu bezwingen. Doch schon
diese Behutsamkeit mußte ihr zu heftig erscheinen, denn ich fühlte, wie ihre Hand in meinen Fingern starr wurde. Sie zog sie
zurück.
Dieser Rückzug beunruhigte mich nicht über die Maßen, schließlich war ich mir bewußt, daß er dem Anstand oder der Scham gehorchte
und nicht der Koketterie, denn die kleinen Schliche unserer höfischen Schönen waren dem ernsten Wesen Frau von Lichtenbergs
völlig fremd. Als das Schweigen aber immer weiter anhielt, beschloß ich, der Gräfin doch ein wenig auf die Sprünge zu helfen,
um aus dem herauszufinden, was ich für die Mäander ihrer Sprachlosigkeit hielt.
»Madame, da es mir, scheint es, verboten ist, Sie zu sehen, ja sogar Ihre Hand zu halten: Können Sie wenigstens sprechen?«
|175| »Sie haben recht, mein Freund«, sagte sie leise. »Ich werde sprechen. Ich muß sprechen. Aber ich kann noch nicht. Lassen Sie
mir ein bißchen Zeit.«
»Verhüte Gott, daß ich Sie dränge, Madame!« sagte ich mit jener Liebenden eigenen Verlogenheit, die in aller Unschuld das
Gegenteil von dem sagen, was sie tun.
Trotzdem wurde mir diese Zeit sehr lang, und ich staunte, daß es ihr derart schwerfiel, Entscheidungen zu fällen, die sie
doch tausend und abertausend Mal hatte erwägen können, bevor sie mich an ihr Bett rief. Das jedenfalls sagte ich mir, der
ich noch so jung war und glaubte, die Frauen seien in unendlichen
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