Königskinder (German Edition)
deutsche Konzentrationslager kennengelernt haben, lässt das nachts eingeschaltete Flutlicht quälende Erinnerungen wachwerden.
Auf die Schnelle wurde eine Krankenabteilung auf die Beine gestellt, in der es sowohl an Insulin als auch an Stethoskopen, Klistieren und Bettpfannen mangelt. Im Lager ist ein einziger Arzt, dem aber bald internierte Ärzte und Medizinstudenten zur Seite stehen. Für die aus Deutschland und Österreich geflüchteten Ärzte ist es ein Glücksfall, endlich wieder arbeiten zu können, denn die britische Ärztevereinigung hat ihnen nicht erlaubt, ihren Beruf in Großbritannien auszuüben. Einmal wöchentlich besucht ein Zahnarzt das Lager, der die Arbeit, die ihn erwartet, nicht bewältigen kann.
In Huyton sind Tausende untergebracht. Einige leben seit mehreren Wochen dort. Manche sind deprimiert und apathisch, andere entwickeln eine außerordentliche Regsamkeit. Wer Geld hat, kann seine Verpflegung in der Kantine aufbessern. Wer keines hat, muss seine Arbeitskraft zu Markte tragen: Schuhe putzen, Strümpfe stopfen, Wäsche waschen. Manche haben sogar ein Firmenschild an ihrer Unterkunft befestigt.
Als Erich sich auf der Lagerstraße umsieht, bemerkt er in der Menge einen hageren Mann mit einem dünnen, langen Hals und einem Adamsapfel in ständiger Bewegung. Sein Anzug ist genauso zerknittert wie der aller anderen, die in Grüppchen beisammenstehen und diskutieren. Was soll aus ihnen werden? Wie lange werden sie an diesem unwirtlichen Ort ausharren müssen? Es gibt nur ein Thema.
«Kurt Neufeld!»
«Erich! So sieht man sich wieder. Nicht nur der österreichische Thronfolger ist hier, sondern auch du!»
«Was du nicht sagst! Auch der?»
Die beiden kennen sich vom Polizeigefängnis des Wiener Landesgerichts, wo sie so manche politische Debatte miteinander austrugen.
«Ist doch weit besser als das Graue Haus, was?», ruft Kurt mit seiner Fistelstimme und schlägt Erich kräftig auf die Schulter.
Eigentlich mögen sie einander nicht. Erich kann Dogmatiker nicht leiden, und Kurt sieht in Erich einen Hallodri. Erich mag auch Kurts glattes Kindergesicht mit der kleinen Nase nicht, das ihn irgendwie an Lenin erinnert. Aber in dieser anonymen Menschenmasse ist man froh über jedes bekannte Gesicht.
Die bekannten Gesichter mehren sich in den folgenden Tagen. Mit seinen zwei Metern Körpergröße und der gebeugten Haltung, die er sich angewöhnt hat, um sich nicht überall den Kopf anzuschlagen, ist Otto schon von weitem zu erkennen. Dass auch er hier ist, freut Erich nun wirklich. Otto Hirschfeld ist ein warmherziger Mann, dessen graublaue Augen unter den buschigen Brauen ihr Gegenüber im Gespräch aufmerksam mustern. In Wien unterrichtete er Druckgraphik an der Kunstgewerbeschule, an der Irka studierte. Über sie haben sie sich kennengelernt und angefreundet.
In Wien hatte Otto eine Federzeichnung von Erich und Irka angefertigt, ein wertvolles Geschenk, das Erich bei seinem Bruder in Wien zurückließ. Mit wenigen Strichen war es ihm gelungen, das Wesentliche an ihren beiden Gesichtern zu erfassen, Erichs ironisch gehobene linke Augenbraue und Irkas melancholischen Blick und ihre schmalen Lippen. Vergeblich hat Erich im Austrian Center in London nach Otto gesucht. Nun haben sie einander wieder. Ein Freund ist angesichts der ungewissen Zukunft weitaus wichtiger als ein genießbares Mittagessen.
«Und Else?», fragt Erich.
«Sie ist in Wien geblieben», erwidert Otto ohne sichtbare Gemütsregung, «arbeitet jetzt im Untergrund. Nach England wollte sie nicht. Niemand hat das so recht nachvollziehen können, aber ich respektiere ihre Entscheidung. Seit Kriegsbeginn habe ich nur zwei Telegramme über das Rote Kreuz von ihr erhalten. Ich glaube, es geht ihr gut.»
Erich kann sich gut an Else erinnern, eine außergewöhnliche kleine Frau mit scharfem Profil und nach Männerart straff nach hinten gekämmtem Haar. Dass sie sich ausgerechnet einen Riesen zum Mann genommen hat, sorgte im Freundeskreis für Heiterkeit, denn sie reicht Otto nur bis zur Brust. Elses politische Radikalität hat Erich immer erschreckt. Er mag es, wenn Frauen anschmiegsam sind und sich die Lippen schminken. Wie Irka.
Auch jenen im Lager, die weder Skat noch Schach spielen oder ihren Geschäften nachgehen, wird es nicht langweilig. Was immer passiert, führt zu ausgiebigen Diskussionen, genügend Zeit hat man ja. Einmal versucht einer zu flüchten, ein andermal kommt einer ins Lagergefängnis, weil er mit einer
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