Königskinder (German Edition)
eingeschmuggelten Zeitung erwischt wird. Die Kommunisten, von denen es nicht wenige gibt, sind damit beschäftigt, ihre Genossen um sich zu scharen und Parteigruppen aufzubauen.
Erich schreibt – auf Englisch, um zu üben – in ein kleines Heft, was er im Lager an komischen und lächerlichen Zwischenfällen erlebt, und liest in seinem mitgebrachten Büchlein mit Theaterstücken von George Bernard Shaw, einem Dramatiker und Satiriker, dessen Wortwitz und politische Leidenschaft er verehrt. Obwohl Shaw in seinen Werken stets soziale Probleme anspricht, wird sein humanitäres Engagement durch einen humoristischen Blick auf die Welt gemildert. Das gefällt Erich, der den tierischen Ernst der Kommunisten nicht leiden kann und sich deshalb von ihnen fernhält. Auch Shaws Einstellung zu Frauen und zur Ehe amüsiert ihn. Zur Hochzeit hat er Irka Shaws «Wegweiser für die intelligente Frau zum Sozialismus und Kapitalismus» geschenkt. Und wenn er sie ärgern will, zitiert er dessen Haltung zur Ehe: «Der Ehehafen ist wie alle anderen Häfen. Je länger die Schiffe in ihnen liegen, desto größer ist die Gefahr, dass sie rosten.» Irka ärgert sich auch prompt und fragt ihn gereizt, warum er sie dann überhaupt geheiratet habe. Manchmal ist Erich sich nicht sicher, ob es das ist, was er vom Leben wirklich will. Aber über sein Leben kann er schon längst nicht mehr selbst verfügen.
Abgesehen von gelegentlich eingeschmuggelten Zeitungen und den Wachposten abgerungenen Informationen ist über Huyton eine Nachrichtensperre verhängt, und wilde Gerüchte machen die Runde. Verschifft sollen sie werden, verlautet der Mundfunk, wofür auch die Nähe des Hafens von Liverpool spricht. Von Kanada, Australien und sogar von Madagaskar ist die Rede.
Vollständig kann man die Ansammlung gebildeter Männer jedoch nicht von Informationen fernhalten, zumal immer wieder neue Flüchtlinge eintreffen, die Zeitungen gelesen und Radio gehört haben. Als am dritten Juli der ehemalige Luxuspassagierdampfer Arandora Star auf dem Weg nach Kanada vor der irischen Küste von einem deutschen U-Boot torpediert wird und Hunderte Menschen ertrinken, darunter eine große Anzahl deutscher, österreichischer und italienischer Internierter, brodelt die Gerüchteküche.
Was dieser peinliche Zwischenfall für die deutsch-italienische Waffenbruderschaft bedeuten wird, ist eine Frage, die auf der Lagerstraße unverzüglich heiß debattiert wird. Das ist seltsamerweise von größerem Interesse als die durchaus reale Gefahr, schon bald selbst im Ozean in eine Seeschlacht zu geraten. Nur der sonst so diskussionsfreudige Kurt macht diesmal nicht mit. Bei seiner Festnahme im Morgengrauen musste er seinen Sohn zurücklassen und weiß nicht, was mit ihm seither geschehen ist. Wurde er ebenfalls interniert, hat er sich womöglich auf der Arandora Star befunden? Nichts spricht dafür, aber auch nichts dagegen.
Auch Irka muss von der Katastrophe gehört oder gelesen haben. Verbringt sie nun schlaflose Nächte in Sorge um Erich? Gewiss weiß sie, was von den offiziellen Beteuerungen zu halten ist, an Bord des Schiffes hätten sich nicht unschuldige Flüchtlinge, sondern nur Nazi-Sympathisanten und italienische Faschisten befunden. Erich hat keine Möglichkeit, sie zu beruhigen, denn nach Eintreffen im Camp ist es den Neuankömmlingen zehn Tage lang nicht gestattet, brieflich mit der Außenwelt in Verbindung zu treten. Er kann es kaum erwarten, ihr endlich zu schreiben. Erst kürzlich wurde Briefpapier ausgeteilt, zwei Briefbogen pro Kopf und Nase. Es besteht aus einem speziellen Kreidepapier, auf dem es nicht möglich ist, mit unsichtbarer Tinte zu schreiben. Wer niemanden hat, dem er schreiben will, verkauft sein Briefpapier. Es findet reißenden Absatz, obwohl manche die unverschämte Summe von fünf Shilling pro Blatt verlangen.
Wenige Tage nach dem Untergang der Arandora Star trifft eine größere Gruppe Überlebender des Schiffsunglücks in Huyton ein. Sie tragen khakifarbene Uniformen mit einem großen roten Fleck auf dem Rücken und werden mit Fragen bestürmt.
«Wir dachten, man würde uns auf die Isle of Man bringen, so hat man uns gesagt. Von Kanada war nie die Rede. Aber als wir am Pier das Schiff sahen, bestimmt ein 15000-Tonner, da ist uns schon mulmig geworden. Der Dampfer war grau angestrichen, und auf dem Vorder- und Hinterdeck konnten wir die Silhouette von zwei Kanonen erkennen. Alle Bullaugen waren mit Klappen verschlossen, und das Promenadendeck
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