Königskinder (German Edition)
sich eine Zigarette an.
Kurz darauf klopft es ein zweites Mal an diesem Morgen an die Tür. Diesmal ist die Wirtin angezogen, und ihr silbergraues Haar liegt sorgsam onduliert auf ihrem Kopf wie eine Mütze. Irka trägt immer noch ihren Pyjama. Mrs. Needham bringt ein Tablett mit einer Kanne Tee, einem Kännchen Milch und einigen Butterkeksen auf einem geblümten Porzellanteller.
«Das wird Sie aufrichten, Irka.»
«Oh, danke. Das ist genau das, was ich jetzt brauche.»
Schniefend hievt Irka einen Stapel Zeitungen, die Erich am Vorabend noch studiert hat, aufs Bett und lädt die Wirtin ein, sich mit ihr ans runde Teetischchen zu setzen.
«Ich weiß, es ist schwer für Sie, so ganz allein in einem fremden Land. Es tut mir so leid. Lassen Sie es mich wissen, wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann.»
Irka versucht, ein mutiges Lächeln aufzusetzen. «Wenn sie ihn nach Übersee schicken, wird er dafür sorgen, dass ich nachkommen kann. Das ist meine einzige Hoffnung.»
«Er wird es schaffen, ganz gewiss. So ein feiner Gentleman, Ihr Eric. Alle werden ihm glauben, dass er nichts Böses gegen uns im Schilde führt. Vielleicht schicken sie ihn auch bald wieder zurück zu Ihnen.»
«Wir sind Trennungen gewohnt. In Wien waren wir beide im Gefängnis. Leider nicht in derselben Zelle.»
«Im Gefängnis?»
Vielleicht hätte sie das besser nicht sagen sollen. Bisher waren sie immer vorsichtig, haben Mrs. Needham kaum etwas über ihr Vorleben erzählt. Nun muss Irka eine Erklärung anbieten.
«Also das war so: Als in Deutschland die Nazis an die Macht kamen, wurde in Österreich ein faschistischer Ständestaat eingeführt. Vielleicht haben Sie von Engelbert Dollfuß gehört? Ein winziger Mann. Nein? Na ja, von Österreich weiß man jetzt nur noch, dass Hitler aus Braunau stammt. Im Februar vierunddreißig war’s dann ganz aus. Alle politischen Parteien und Gewerkschaften wurden verboten. Später haben die Nazis Dollfuß ermordet, geschieht ihm recht.»
Irka spürt, wie das Reden sie entspannt. Sie gießt sich etwas Milch aus dem Kännchen in die Tasse, wie es ihr die Engländer beigebracht haben, und darauf den schwarzen Tee, der eine wunderbare hellbraune Färbung annimmt.
«Ich habe damals in Wien an der Kunstgewerbeschule studiert. Erich schrieb Artikel für eine Gewerkschaftszeitung, ich zeichnete die Deckblätter. Die Zeitung wurde auf Wachsmatrizen getippt und – powielać – wie sagt man nur? Vervielfältigt, ja. Man musste so eine Kurbel drehen. Es war gefährlich, weil es illegal war, aber wir hatten auch viel Spaß.»
Diese Variante erscheint Irka am unverfänglichsten, schließlich haben die Engländer eine lange Gewerkschaftstradition. Die in Österreich unter den Austrofaschisten verbotene Kommunistische Partei, in die sie beide aus Frust über das Versagen der Sozialdemokraten nach dem kurzen Bürgerkrieg im Februar 1934 eingetreten waren, will sie lieber nicht erwähnen.
«Und das war verboten?»
«Oh ja, jede politische Tätigkeit war verboten. Alles. Am Ersten Mai wurden wir in Wien von berittenen Polizisten niedergeknüppelt. Als unsere Arbeit für die Gewerkschaftszeitung aufflog, kamen wir ins Gefängnis. Sechsunddreißig war das. Erich bekam neun Monate, ich sechs. Damals waren wir noch nicht verheiratet. Mich haben sie dann als polnische Staatsbürgerin nach Polen abgeschoben, ich durfte nicht mehr nach Österreich zurück. Als Erich freikam, reiste er zu mir nach Warschau, und dort haben wir geheiratet. Durch die Ehe mit einem Österreicher wurde ich Österreicherin. Schauen Sie, dieses Foto. Das sind wir an unserem Hochzeitstag. Sieht er nicht großartig aus?»
«Ein wunderschönes Paar. Und diese Löwenjungen in Ihrem Schoß!»
«Die haben sie uns im Zoo von Warschau für das Foto zum Halten gegeben.»
«Trinken Sie Ihren Tee, Irka, er wird ja ganz kalt. Ihr Name – Irka – ist also polnisch?»
«Ich heiße Irena. Irene auf Englisch. Irka ist die Koseform. So hat man mich von Geburt an genannt. In der polnischen Sprache hat jeder Name eine Koseform, manchmal mehrere. Meine Schwester heißt Ludwika, wir haben sie immer Ludka genannt. Auch für gewöhnliche Worte wie Flasche oder Tisch verwenden wir Diminutive – buteleczka, stoliczek . Die Sprache ist voll davon. Im Englischen kennt man das nicht. Wer weiß, was das über die Menschen sagt, die diese Sprachen sprechen? Darüber habe ich noch nie nachgedacht.»
Plötzlich spürt sie ein sehnsüchtiges Ziehen in der Brust. Wie lang
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