Körper-Haft (German Edition)
Die Augen aufzuschlagen war nach meiner bisherigen Erfahrung nicht die beste Idee. Vielleicht wartete Mosquito immer noch auf seinen großen Auftritt. Und selbst wenn er inzwischen den Raum verlassen hatte – was sollte ich machen? Das rote Kreuz auf meinem Holo-Flat-Pad aktivieren? Nur um zu riskieren, dass ich damit Mosquito zurück an mein Bett lotste und ihm damit eine doppelte Genugtuung verschaffte? Nein Danke! Und Bruder Martin über das Kruzifix auf dem Schirm rufen? Vielleicht steckte er mit Mosquito unter einer Decke? Was bei einem Priester eine äußerst prekäre Lage, wenn auch nicht ungewöhnlich wäre. Und selbst, wenn sie nichts miteinander zu tun hatten … würde Bruder Martin dann nicht eine Meldung machen und der Verdacht automatisch auf mich zurückfallen? Nach dem Motto: Nr. 5 hat gepetzt! Ich konnte es drehen und wenden: Es war ein Teufelskreis! Am Schluss würde ich immer die Retourkutsche bekommen.
Eingeschworen
Ich hörte, wie die Tür geöffnet und kurz darauf geschlossen wurde. Das Rascheln von langer Kleidung und schnellen Schritten folgte. Dann stoppten die Geräusche ungefähr in der Zimmermitte. Bruder Martin?
»Meine lieben Schäfchen, nachdem wir heute einen Ihrer werten Mitstreiter umgelegt …«, er bemerkte seinen Lapsus sofort, »… äh umverlegt haben, möchte ich Sie darüber informieren, dass kein Grund zur Beunruhigung besteht. Wir mussten ihn lediglich auf eine andere Station verlegen, die seiner speziellen gesundheitlichen Situation gerecht wird.«
Na klar: waschen – ölen – tieferlegen! Der Mann war tot! Keine Frage, das war tatsächlich eine ganz spezielle gesundheitliche Situation, für die natürlich auch eine andere Station zuständig war. Eine ganz andere Station!
»Es besteht also, wie gesagt, kein Grund zur Beunruhigung«, fuhr er fort.
Wenn man zweimal kurz hintereinander zu hören bekommt, dass kein Grund zur Beunruhigung besteht, sollten sofort alle Warnglocken läuten, es sei denn man lässt sich wirklich von jeder Pappnase einwickeln wie ein toter Fisch.
Parallel zu meinen Gedanken spielte ich an den Einstellungen zu meinem Holo-Flat-Pad herum und blinzelte mich durch das Menü Personenstatus, um mich selbst zu betrachten. Dabei entdeckte ich, dass es die Möglichkeit von Tele- und Weitwinkeleinstellung zur Steuerung gab. Ich konnte also zum einen so nahe heranzoomen, dass ich die Kraterränder meiner neu entstandenen Hautunreinheiten sehen konnte. Oder, was viel interessanter war, ich konnte im Weitwinkelmodus das gesamte Zimmer und meine Zellengenossen aus der Vogelperspektive überblicken.
»Ich wollte nur nach dem Rechten schauen und mich vergewissern, dass es ihnen allen gut geht! – Mein Gott, wer hat ihnen denn das angetan?«, keuchte Bruder Martin mit sich überschlagender Stimme.
Durch die Hologramme, die über Nr. 2 , Nr. 3 und Nr. 4 flirrten, konnte ich aus den Augenwinkeln sehen, wie Bruder Martin hinüber ans Fenster zu Nr. 1 stürzte. Weil meine Augen vom Zur-Seite-Rollen schon schmerzten, schaute ich mir das Ganze aus der Vogelperspektive über mein Holo-Flat-Pad an. Bruder Martin zückte ein weißes Stofftaschentuch aus seinem schwarzen Gewand und schien tatsächlich für einen Moment innerlich mit sich zu ringen, ob er darauf spucken sollte, um damit die Oberlippe von Nr. 1 zu reinigen.
Vermutlich tauchte dann das Bild, wie ihn seine Mutter oder seine Tante auf diese Art als Kind gereinigt hatte, vor seinem geistigen Auge auf, denn ein fröstelndes Zucken durchlief seinen Körper. Er steckte sein Taschentuch wieder ein und drückte den Rufknopf für die Pfleger, der seitlich in der Wand eingelassen war.
»Waren das die beiden Pfleger?«, fragte er an Nr. 1 gewandt. »Jonas Mengele und Daniel Becker? Bitte blinzeln Sie zweimal für Ja und einmal für Nein .«
»Blöde Frage, wie soll man da antworten, wenn es lediglich einer von beiden war«, dachte ich. Die gleiche Frage stellte sich wohl auch Nr. 1 und schloss die Augen um nachzudenken. Vielleicht stellte er auch die gleichen Überlegungen an wie ich vorhin. Wenn er jetzt petzte, womit würde es Mosquito ihm heimzahlen?
»Bitte antworten Sie mir! Waren es die beiden Pfleger?«
Die Tür wurde aufgerissen, Brötchen kam hereingestürzt und befreite damit Nr. 1 aus seinem Dilemma. Als er Bruder Martin sah, fragte er völlig außer Atem: »Ich habe einen Notruf bekommen, was kann ich tun?«
»Schauen Sie sich mal die Oberlippe von Nr. 1 an, vielleicht erinnern Sie sich dann
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