Körper-Haft (German Edition)
sie nicht vorher selbst geprüft hast! Sie kann tödliche Auswirkungen haben!«
Wenn ich jetzt darüber nachdachte, klangen seine Worte fast prophetisch in meinen Ohren nach.
»Jeder Fallschirmspringer, der seinen Urenkeln noch von seinem luftigen Leben erzählen will, packt seinen Fallschirm selbst und überprüft mehrmals seine Ausrüstung!«, fuhr Ronald fort.
Er schien zu spüren, dass seine Belehrungen gefruchtet hatten, aber jedes weitere Wort in genervte Ablehnung umschlagen konnte und setzte sich zu uns auf den Lagerboden. Mit einer fließenden Bewegung zauberte eine große, silberne Münze hervor, die er über seine Fingerknöchel wandern ließ. Von links nach rechts und von rechts nach links und immer schneller und schneller. Dann warf er sie hoch, fing sie und drückte sie mir in Hand.
»Jetzt versuch Du es!«
Ungelenk versuchte ich die Münze über meine Knöchel rollen zu lassen. Aber außer, dass ich beinahe einen Krampf in der Hand bekam, während die Münze wieder und wieder klingend zu Boden fiel, geschah nicht viel.
Er zeigte mir, wie ich Finger für Finger leicht anheben musste, damit die Münze darüber rollte. »Du musst nur üben, dann geht es irgendwann wie von alleine.«
»Womit? Ich habe keine so große Münze.«
»Dann behalt einfach die Münze in Deiner Hand.«
»Und was bekommen Sie dafür?«,, fragte ich und dachte panisch an mein spärliches Taschengeld.
»Am meisten Freude machst Du mir damit, wenn Du kräftig übst und mir zeigst, wie weit Du damit kommst. Und außerdem kannst Du gerne Ronald zu mir sagen.«
»Danke Ronald«, sagte ich schüchtern. Er stand auf und ging zu dem Holzbalken, in dem immer noch das Messer steckte. Er zog es heraus und verschwand ohne ein weiteres Wort in Richtung Verkaufsraum.
Sunny übte täglich mit mir das Münzenrollen auf den Fingern. Und wenn meine Hand irgendwann anfing zu verkrampfen, sagte er: »Auf, komm, lass uns etwas anderes machen, das Dich davon ablenkt. Danach geht es deutlich einfacher. Mein Pa meint, es würde so viel leichter ins Unterbewusstsein rutschen, weil die mentale Sperre weg ist, wenn man sich zwischendurch ablenkt. Damit kann man Bewegungsabläufe viel leichter konditionieren .«
» Kondi-Was ?«, fragte ich.
» Konditionieren – das heißt so viel wie Verhaltensmuster einüben. Und jetzt lass uns Einrad fahren.« Innerhalb einer Woche hatte er mir das Einradfahren schon soweit beigebracht, dass ich von dem Halteverbotsschild an unserer Straße bis zu Sunnys Gartenzaun kam.
Das waren immerhin über zwanzig Meter auf dem in jeder Richtung wackeligen Gefährt. Bevor ich Sunny kennengelernt hatte, hätte ich mir das nie zugetraut. Das stärkte mein Selbstvertrauen ungemein. Sein Motto schien zu sein: »Wenn Du eine Idee hast, dann probier’ aus, ob’s funktioniert. Und wenn’s nicht funktioniert, dann liegt’s bestimmt nicht an der Idee, sondern an Umsetzung.« Und mit seiner Geht-nicht-Gibt’s-nicht-Einstellung hatte er nicht nur eine umwerfend positive Ausstrahlung, sondern auch wahnsinnig viel Erfolg. Auch wenn seine Methoden manchmal äußerst fragwürdig waren.
Kurz nach der Geschichte mit dem Messer wollte er mitten im Sommer Ski fahren. Als ersten Versuch schleppten wir seine Skistiefel und seine komplette Ausrüstung zu einem nahe gelegenen Hügel. Aber das Gras bremste zu stark und ich fühlte mich innerlich in meiner Meinung bestätigt, dass es einfach eine Schnapsidee war, im Sommer Ski fahren zu wollen. Sunny hingegen lief grübelnd neben mir nach Hause.
Ein paar Tage später schleppten wir das ganze Zeug zu einer langen Treppe, die seitlich an unserem am Hang gebauten Supermarkt herunter lief. Es waren bestimmt 15 Meter Höhenunterschied bis zum unteren Parkdeck. Dieses Mal hatte er sogar einen Helm und die Protektoren seiner Inline-Skates dabei. Oben an der Treppenspitze lüftete er nochmals seine Skibrille, die Spitzen der Ski standen schon Unheil verheißend über dem treppengezackten Abgrund. Er stand da und überprüfte noch mal alles wie ein Skispringer, der an der Krone der Skischanze steht.
»Heh, Sunny lass den Scheiß, das funktioniert doch eh nicht!«
Er grinste mich an. »Mal sehen, ich bin guter Dinge.« Im nächsten Moment ratterte er schon mit einem Höllenlärm und einer ebensolchen Geschwindigkeit die Treppe hinab. Was er vermutlich nicht bedacht hatte, war der Treppenabsatz, der nach circa 14 Metern Höhe kam und ihn einfach über die restlichen sechs Stufen hinweg
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