Koerper, Seele, Mensch
Noch beunruhigender ist der Mangel an Literatur über die Risiken dieses Medikaments, über die vielfältigen ›allergischen‹ Zustände, die man bei Patienten beobachten kann, oder über etwaige unerwünschte Nebenwirkungen.
Statt die Droge Arzt zu erforschen, wurden Wege ersonnen, um den unkontrollierbaren Effekt als »pharmakodynamisch unwirksame« Beigabe auszuschalten. Der Grund dafür liegt darin, daß sich die Droge Arzt im trivialen, zweigliedrigen Ursache-Wirkungs-Modell nicht beschreiben läßt.
Arzt und Patient sind als lebende Systeme geschlossene Systeme, sie leben in Wirklichkeiten, die für den jeweils anderen eine Black Box darstellen, bei der man zwar sehen kann, was hineingeht und was herauskommt, aber nicht,was sich in ihrem Inneren abspielt. Das Innere der ›schwarzen Kästen‹, die vom Arzt und Patienten erlebten Wirklichkeiten, können nur in einer gemeinsamen Wirklichkeit, also immer nur fallweise bezogen auf eine gemeinsame Sicht, aber nie umfassend und vollständig sichtbar werden. Diese gemeinsame Wirklichkeit müssen Arzt und Patient kooperativ aufbauen. Dafür bedarf es eines gemeinsamen Codes, mit dem sich Patient und Arzt verständigen können. Erst wenn ein gemeinsamer Code gefunden worden ist, können die beiden als Partner einen Behandlungsauftrag vereinbaren.
Das Medium, in dem gemeinsame Wirklichkeiten entstehen, ist die Geschichte, das Narrativ. Jede Geschichte hat ihren Anfang und ihr Ende. Davor oder danach kann sich nichts ereignen, was zu ihr gehört. Geschichten erschaffen einen Raum in der Zeit mit Wegen für unsere Phantasie, auf denen wir von der Gegenwart in die Vergangenheit gehen und bei allen Ereignissen, von denen sie berichten, dabeisein können. So schaffen sie die Voraussetzung, Ereignisse zu verstehen, denn verstehen heißt wissen, wie etwas entstanden ist.
Auch im Dialog ist der Augenblick entscheidend, in dem eine gemeinsame Wirklichkeit entsteht. Das geschieht, wenn es den Gesprächspartnern gelingt, den gemeinsamen Code für das zu finden, wovon sie sprechen. Als diagnostisches Instrument kann der Arzt in diesem Moment etwas über die Wirklichkeit seines Patienten und darin über sein wirkliches Leiden erfahren. Die vom Patienten beklagten Symptome können dann nicht nur als Wirkungen im Körper verborgener Ursachen, sondern als Zeichen für eine Passungsstörung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt verstanden werden.
Als ›Droge‹ wird der Arzt für die Dauer einer Geschichte Teil der Umwelt seines Patienten. Sein therapeutisches Wirken muß darauf gerichtet sein, dem Patienten beim Aufbau einer für ihn passenden Umwelt behilflich zu sein, in der dieser frei über seine Kräfte verfügen und seine Autonomie wiedererlangen kann. Dann ist die gemeinsame Geschichte zu Ende und der Arzt für die Wirklichkeitskonstruktion des Patienten wieder entbehrlich. Wenn diese Wirkmechanismen nicht beachtet werden, kann die Droge Arzt zu einem Nocebo-Effekt werden, also zu Schaden führen.
Im folgenden Fall wird berichtet, wie zwischen mir und meinem Patienten eine gemeinsame Wirklichkeit entstehen konnte, wie sie durch Passungsverlust zwischenzeitlich verlorenging, um dann noch einmal hergestellt zu werden, so daß ich innerhalb kurzer Zeit als Droge Arzt erhebliche Placebo-, aber auch schwere Nocebo-Wirkungen verursachte.
Herr F. wurde im Juli 1997 stationär auf die Innere Abteilung des nächstgelegenen Krankenhauses wegen starker rechtsseitiger Ober- und Mittelbauchschmerzen sowie zunehmenden Leibesumfangs aufgenommen. Eine durch Alkoholmißbrauch verursachte Leberzirrhose war bei dem 72jährigen Patienten seit 1984 bekannt, Herr F. hatte seit der Diagnosestellung auf jeglichen Alkoholkonsum verzichten können. Mit einem harntreibenden Medikament blieb das Krankheitsbild bis zur jetzigen Aufnahme in unsere Klinik, also 13 Jahre lang, stabil.
Bei der Aufnahmeuntersuchung fand sich eine größere Menge freier Flüssigkeit im Bauchraum. Zunächst wurde angenommen, die Schmerzen seien durch den vermehrten Druck im Bauchraum zu erklären. Daher wurde mitMedikamenten für ein nachhaltiges Ausschwemmen dieser Flüssigkeit gesorgt. Wegen trotzdem anhaltender Klagen wurde ergänzend eine Spiegelung des Dickdarms vorgenommen, ohne daß jedoch ein krankhafter Befund gefunden werden konnte. Laborchemisch war eine exorbitante Erhöhung eines für schwere Lebererkrankungen typischen Proteins als möglicher Hinweis auf eine Erkrankung an primärem Leberzellkrebs
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