Koerper, Seele, Mensch
aufgefallen.
Zu diesem Zeitpunkt lernte ich Herrn F. in meiner Funktion als urlaubsvertretende Stationsärztin kennen. Es war der elfte Tag seines stationären Aufenthalts, und bei der Visite klagte er erneut über die starken rechtsseitigen Oberbauchschmerzen, die immer gegen Abend einsetzten, ihn die ganze Nacht über quälten und am Schlafen hinderten. Er sei jetzt schon eineinhalb Wochen bei uns, aber bezüglich seiner Schmerzen habe er keinerlei Linderung erfahren. Er gab deutlich zu verstehen, daß er mit unserem bisherigen Vorgehen unzufrieden war und daß er befürchtete, womöglich sehr schwerwiegend erkrankt zu sein.
Ich entschloß mich zunächst zu einer konsequenten Schmerzbehandlung mit Morphin-Tabletten und traf ihn am nächsten Morgen deutlich gelöster an, er hatte die erste schmerzfreie Nacht bei uns verbracht. Bei der nun erneut durchgeführten Ultraschalluntersuchung bestätigte sich der Verdacht auf einen Tumor der Leber, in der ergänzenden Computertomographie des Bauchraums wurde darüber hinaus eine begleitende Verstopfung der Pfortader gesehen. Beratungen mit den Krebsspezialisten und Gastroenterologen blieben ergebnislos, es konnte wegen des fortgeschrittenen Tumorleidens keine Empfehlung zu einem chirurgischen Eingriff oder zu einer Chemotherapiegegeben werden. Wir konnten Herrn F. also ausschließlich palliative Maßnahmen anbieten.
Ich klärte ihn alsbald in vollem Umfang über seine Erkrankung auf. Er nahm seine aussichtslose Prognose sehr gefaßt auf. Auf seinen Wunsch sprach ich ausführlich mit den Angehörigen. Diese waren schwer erschüttert und konnten sich mehrere Tage lang kaum fassen. Es waren tägliche, lange Einzel- und Gruppengespräche erforderlich, um das Krankheitsbild zu erklären und die Erschütterung sowie die Verunsicherung wegen der womöglich bevorstehenden Pflegesituation soweit möglich abzubauen.
Soviel ich in dieser Zeit mit den Angehörigen beschäftigt war, mit Herrn F. wechselte ich nur noch wenige Worte bei der Visite. Er hatte seit der Diagnosestellung nicht mehr das Bett verlassen, klagte über wieder zunehmende stärkste Schmerzen und erhielt von mir immer mehr, im Verlauf bis zu 100 mg Morphin am Tag in Kombination mit anderen starken Schmerzmitteln. Er aß nicht, trank nicht und ließ sich von den Schwestern komplett im Bett versorgen. Mit uns wechselte er wenige, gedehnte Worte, mit seinen Angehörigen sprach er überhaupt nicht mehr. Bei den Übergaben des Pflegepersonals hieß es, er sei jetzt präfinal, kurz vor dem Sterben. Man legte ihn in ein Einzelzimmer.
Wir hatten aber klinisch keinen Anhalt für eine Explosion des Tumorgeschehens. Außerdem hatte Herr F. für mein Gefühl viel zu wache Augen, um im Sterben zu liegen. Auf den Visiten fragte ich ihn eindringlich, ob er sich uns nicht mitteilen wolle, und erhielt nur den langen, traurigen Blick zur Antwort. Ich befürchtete, ihn mit meiner schonungslosen Aufklärung überrumpelt und in einereaktive Depression gestürzt zu haben, verordnete unter dieser Hypothese niedrigdosiert ein Antidepressivum und setzte die regelmäßige Gabe von Morphium ab, das ihm die Schwestern nur noch auf seine Aufforderung hin geben sollten. Er äußerte jedoch täglich weniger Verlangen danach.
Drei Tage später hatte ich Nachtdienst und wurde von der Schwester gegen halb zwölf in der Nacht zu Herrn F. gerufen, der mich möglicherweise zuvor auf dem Flur gehört hatte. Er forderte mich auf, mich an sein Bett zu setzen, und begann von den glücklichen und unglücklichen Momenten seines Lebens zu erzählen. Das größte aktuelle Unglück lag darin, daß sich seine jüngste Tochter entgegen seinen Wünschen und Hoffnungen in die Fremde verheiratet hatte. Er hatte ihr sein Haus als Erbteil zugedacht mit der Vorstellung, daß sie, verheiratet oder ledig, im elterlichen, wohl großen Haus wohnen bleiben und ihn und seine Frau im Alter unterstützen würde. Die jungen Leute hätten seine Bedenken nicht geteilt, und kaum sei die Tochter ausgezogen, werde er auf den Tod krank. Er wünsche sich jetzt, sobald wie möglich nach Hause gehen zu dürfen, um die Zeit, die ihm noch bleibe, mit seiner Frau zu verbringen, außerdem wolle er sein Testament ändern und sein Haus der zweiten Tochter vermachen. Er forderte mich auf, einen Termin für einen Familienrat an seinem Krankenbett baldmöglichst mit allen vier Frauen zu vereinbaren, ich müsse unbedingt dabeisein und ihm helfen, seine Entscheidungen seiner Familie
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