Koerper, Seele, Mensch
die organische Krankheit selbst so nachhaltige psychische oder soziale Folgen auslöst, daß diese nicht allein bewältigt werden können. Psychotherapie ist in dieser Variante der Psychosomatik ein zu erlernendes Handwerk, wie zum Beispiel auch die Chirurgie eines ist, und ich erlebe sie als einen Segen für meine Patienten. Psychosomatiker müßten sich diesem Konzept zufolge Fachärzte für Psychotherapie nennen, was sie aber nicht wollen; statt dessen spricht man von Fachärzten für Psychosomatik und Psychotherapie. Diese Variante der Psychosomatik ist also einerseits von einer zutiefst dualistischen Denkweise geprägt: Die Seele sitzt in dem einen Stockwerk und macht den Körper, der sich in einem anderen Stockwerk befindet, krank. Andererseits könnte man darin aber – aus der Sicht der Integrierten Medizin betrachtet – schon ein Stück der Systemtheorie finden, in der von Subsystemen und Auf- und Abwärtsbewegungen die Rede ist. Diese Variante beinhaltet also zumindest einen Aspekt, den man ganzheitlich nennen könnte.
Aus diesen Überlegungen heraus kommt man zur vierten und letzten Variante, der zufolge Psychosomatik eine ärztliche Grundhaltung beschreibt. Ein Arzt, der diese Grundhaltung einnimmt, sollte den Patienten nicht in Körper und Seele aufgeteilt, in einzelne Organe zerlegt wahrnehmen und seine Krankheit nicht abschnittsweise und desintegriert behandeln. Diese Grundhaltung teileich und wünsche jedem Patienten, daß er auf Ärzte trifft, die ihren Beruf mit dieser Haltung ausüben. Ebenso wünsche ich jedem Arzt, daß er in seiner Ausbildung und während seiner beruflichen Tätigkeit die Chance bekommt, diese Grundhaltung für sich zu erkunden und anzunehmen. Unter diesem Blickwinkel ist der Psychosomatiker ein Facharzt für ärztliche Grundhaltung.
Spätestens an dieser Stelle wird klar, daß sich die inhaltliche Bestimmung von Psychosomatik immer mehr dem Menschenbild annähert, von dem ich zu Beginn meiner Ausbildung einmal dachte, das sei die Humanmedizin. Allerdings frage ich mich, wieso eine solche ärztliche Grundhaltung, die eigentlich in die allgemeine Ausbildung einfließen sollte, in ein spezielles Fach ausgelagert werden muß. Wenn die Psychosomatik für die ganzheitliche ärztliche Grundhaltung zuständig ist, was ist der Schulmedizin damit verlorengegangen?
Als Antwort auf eine solche Frage ergibt sich eine fünfte Definition: Psychosomatik ist das institutionelle Outsourcing des Menschen aus der Schulmedizin. Indem die Psychosomatik als eigenständiges medizinisches Fach institutionalisiert wird, sind sowohl der Mensch ›Patient‹ als auch der Mensch ›Arzt‹ erfolgreich aus der Schulmedizin ausgeschlossen. Stört der Mensch Patient nachhaltig den Betrieb, wird er auf eine Psycho-Station oder in eine Psycho-Klinik verlegt – das Outsourcing war erfolgreich. Ähnlich ergeht es dem Menschen Arzt: Auch er kann stören, und sollte er das nachhaltig tun, wird er an seinem Arbeitsplatz scheitern, er wird gemobbt oder fällt dem Burn-out-Syndrom zum Opfer. Sofern er nicht resigniert, wird er in ein Psycho-Fach wechseln – das Outsourcing war erfolgreich.
Die Schulmedizin denkt mechanistisch, ihr Menschenbild ist dualistisch, zweigleisig, und möglicherweise ist das erwünscht, denn das Gesundheitswesen wird zur Zeit in rasantem Tempo zu einer großen Profitmaschine transformiert. Mit Einzelfällen, mit individuellen Arzt-Patient-Beziehungen, mit Narrativen und Fallbesprechungen läßt sich aber keine Gesundheitsindustrie aufbauen und profitabel unterhalten. Der berühmte amerikanische Internist Bernard Lown beschreibt das kurz und treffend so: »Ein profitorientiertes Gesundheitswesen ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich.« (Lown 2004) Eine Integrierte Medizin ist nicht geeignet, in einem profitorientierten, industrialisierten Gesundheitswesen betrieben zu werden.
10. Integrierte Medizin:
Die Utopie
Das schon erwähnte Zitat Thure von Uexkülls von der Medizin für Körper ohne Seelen und der Medizin für Seelen ohne Körper ist einer der treffendsten Sätze über die Zweigleisigkeit der heutigen Schulmedizin. Die meisten meiner Kollegen versuchen wie ich, dieses Problem dadurch zu lösen, daß sie sich in erster Linie an den Nöten ihrer Patienten orientieren und sich nicht nur den technischen Faszinationen und den ökonomischen Zwängen ihres Fachs unterwerfen. Andere wiederum finden ihren Weg, damit umzugehen, indem sie einen psychotherapeutischen Zusatztitel
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